Deggendorf
„Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten“

16.04.2023 | Stand 16.09.2023, 23:33 Uhr
Rüdiger Schernikau

Redner Dr. Günther Beckstein (M.) mit Moderator Prof. Dr. Johannes Grabmeier (l.) und Alt-Oberbürgermeister Dieter Görlitz (r.) im Alten Rathaussaal. −Foto: Rüdiger Schernikau

„Demokratieverdrossenheit ist unsere große Überschrift.“ So hat Moderator Professor Dr. Johannes Grabmeier, Vorsitzender des ersten Bürgerforums für lebendige Demokratie und Toleranz und langjähriger Stadtrat, im Alten Rathaussaal die Vortragsveranstaltung mit dem ehemaligen Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Günther Beckstein eingeleitet.

Mit Demokratieverdrossenheit verbunden sei beispielsweise: eine geringe Wahlbeteiligung, als abgehoben empfundene Politiker, der Dreiklang „Kreißsaal-Hörsaal-Plenarsaal“ oder die Einschätzung, dass es zu viele Akademiker in politischen Entscheidungsgremien gebe. Zum Thema Demokratieverdrossenheit gehörten auch massive, polemische Attacken von Rechtsaußen gegen unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung, die als „System“ verunglimpft werde. Weitere Stichworte seien: als einseitig empfundene Medienberichterstattung oder Fake News in den Sozialen Medien. Vor diesem komplexen Hintergrund gelte es, die Demokratie wieder zu beleben und zu stärken und das Interesse der Einzelnen wieder zu wecken, sich in demokratischen Entscheidungsverfahren zu engagieren und die Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen, so Grabmeier. In Betracht kämen in Bayern bereits bestehende direkte Beteiligungsformen wie Bürger- oder Volksentscheide, aber auch neue Beteiligungsformen etwa die bundesweite Einrichtung von Bürgerräten zu bestimmten Themen.

Bürgerräte als Chance für die Demokratie?



Zu dem Vortrag mit Diskussion, unterstützt vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“, kamen rund 50 Besucher in den Alten Rathaussaal, darunter auch einige Stadt- und Kreisräte von Freien Wählern, SPD, Grünen und Bayernpartei, Alt-Oberbürgermeister Dieter Görlitz und viele weitere Honoratioren. Beantwortet werden sollte insbesondere die Frage, ob „Bürgerräte eine Chance für die (direkte) Demokratie“ sein könnten.

Redner Dr. Beckstein berichtete über den ersten bundesweiten Bürgerrat zum Thema Demokratie, den er im Jahr 2019 geleitet hat. „Bürgermitwirkung ist eine der zentralen Grundideen der Bayerischen Verfassung“, stellte er zunächst fest. Diese Idee habe der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner sehr entscheidend mitgeprägt. Hoegner wiederum habe sich von der Schweiz und in geringerem Maße von Österreich beeinflussen lassen. Die Grundidee der Demokratie sei, dass man die zweckmäßigste Lösung am besten durch Rede und Gegenrede, durch Argument und Gegenargument finde. Folglich gehöre Streit durchaus zur Demokratie – zusammen mit Respekt und Toleranz. Unterschiedliche Meinungen, auch „schmerzhafte“, seien in der Demokratie notwendig. „Alternativlos – jeder denkt bei diesem Wort an die frühere Bundeskanzlerin – alternativlos ist kein zentraler Begriff der Demokratie“, konstatierte Beckstein. Allerdings seien Grenzziehungen notwendig, wenn beispielsweise die Menschenrechte insgesamt in Frage gestellt werden. „Im demokratischen Spektrum sind unterschiedliche Meinungen existenziell für die Demokratie“, unterstrich er und wies darauf hin, dass „wir – gezwungen durch die Klimakrise – vor existenziellen Umgestaltungen stehen“, die eine zentrale Diskussion erfordern würden, weil die notwendigen Transformationen kurzfristig einen erheblichen Teil des Bruttosozialprodukts kosten werden und dadurch Spielräume für Anderes wie Soziales und Konsum sich massiv reduzieren würden. „Darüber wäre eine breite Diskussion im Volk notwendig, denn sonst würde das nur in Protesthaltungen und Schwierigkeiten münden“, befürchtet der frühere Bayerische Ministerpräsident.

Klimakrise und weltpolitische Lage als Herausforderung



Weitere politische Herausforderungen neben der Klimakrise seien mit der veränderten weltpolitischen Lage (Stichwort Ukraine oder China), mit dem demografischen Wandel und mit der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz verbunden. Bei diesen Themen sollten die Bürgerinnen und Bürger ernsthaft mitwirken und echt mitentscheiden können. In Bayern gebe es mehr Möglichkeiten direkter Mitwirkung durch Bürgerbegehren und -entscheide oder durch Volksbegehren und -entscheide als in anderen Bundesländern. „Ob bei uns die Bereitschaft besteht, dass sich die Menschen so intensiv beteiligen wie das ganz eindeutig in der Schweiz der Fall ist, darüber bin ich im Zweifel, aber ich glaube, dass es zur Ergänzung der repräsentativen Demokratie ausgesprochen wichtig ist, Elemente der direkten Demokratie zu haben“, ist Dr. Beckstein überzeugt. In Bayern gebe es das in umfangreicherem Maße als in anderen Bundesländern. Und trotzdem werde „die Distanz zwischen Bürgern und Regierenden in erschreckender Weise größer“. Im „modernen Leben“ gebe es offensichtlich – mehr oder weniger stark – eine deutliche Entfremdung zwischen dem Wahlvolk und den Repräsentanten, Mandatsträgern und Regierenden.

Bürger stärker an Entscheidungen beteiligen



Eine der Möglichkeiten, wie man das verringern könne, liege nach Meinung Becksteins darin, grundsätzlich in der repräsentativen Demokratie zu bleiben und zugleich Bürgerräte einzuführen, mit denen man die Bürger stärker an Entscheidungen beteiligen könne. Wichtig sei, dass die Teilnehmer zufällig und zugleich repräsentativ ausgewählt werden, dass sie sich in Workshops intensiv mit einem bestimmten Thema befassen, um dann eine Empfehlung an die entscheidungsbefugten Stellen zu geben. Bürgerräte sind keine Entscheidungsgremien, sie geben lediglich Gutachten und Empfehlungen ab. Die rund 150 Teilnehmer des ersten bundesweiten Bürgerrats verpflichteten sich, an drei Wochenenden (sechs Tagen) sowohl am Workshop, in dem gegensätzliche Expertisen vorgetragen wurden, als auch an Bürgerrats-Diskussionen im Plenum und in Arbeitsgruppen mitzuarbeiten. Dafür gab es für jeden eine Entschädigung in Höhe von 500 Euro pro Tag für Aufwand und Fahrtkosten. Insgesamt hat das Verfahren inklusive Expertisen laut Beckstein mehr als eine Million Euro gekostet. Erfahrene Moderatoren haben dafür gesorgt, dass das Ganze fair abläuft und alle, sowohl die „Lauten“ als auch die „Leisen“, sich einbringen konnten, erinnerte sich Beckstein, der sichtlich begeistert schilderte, mit welcher Intensität und Ernsthaftigkeit die Teilnehmer an das Thema Demokratie herangegangen sind. Entscheidend sei insbesondere, dass die Moderatoren nicht erkennen lassen, welche Meinung sie selbst haben. Es gehe darum, dass nicht „von oben“ beeinflusst werde, sondern dass die Teilnehmer miteinander auf Augenhöhe Positionen erarbeiten. Dazu gehöre auch, dass jeder zu Wort komme. Deshalb sei man rigoros nach dem Prinzip verfahren, dass niemand ein zweites Mal reden dürfe, wenn nicht vorher jeder einmal gesprochen hat. Die Ergebnisse des ersten bundesweiten Bürgerrats wurden dann dem damaligen Bundestagspräsidenten und den Bundestagsabgeordneten vorgestellt. Auf dieser Grundlage wurde parlamentarisch entschieden, dass weitere Bürgerräte mit entsprechender Finanzausstattung zu drängenden Themen durchgeführt werden sollen.

Lebendige Diskussion nach dem Vortrag



Im Anschluss an Becksteins Vortrag kam es zu einer lebendigen Diskussion, in der einzelne Fragestellungen vertieft und viele weitere Aspekte zur Sprache kamen. So wurden die in der Schweiz fest verankerten und funktionierenden Elemente direkter Demokratie wie Volksabstimmungen zu diversen Themen auf besondere, seit Jahrhunderten bestehende, historische Traditionen der Eidgenossen zurückgeführt. Die von Beckstein in der Diskussion geäußerte These, dass das Volk deutlich konservativer sei als die Elite der Mandatsträger, löste vereinzelt Widerspruch aus. Als Gegenbeispiel wurden Mehrheiten für ein Tempolimit auf Autobahnen bei Meinungsumfragen genannt. Bezüglich der Beratungsinstitution Bürgerräte wurde die Frage aufgeworfen, wie die Objektivität von Experten gewährleistet werden könne und wie sicherzustellen sei, dass man angesichts bestehender Machtverhältnisse in entscheidungsbefugten Gremien nicht nur für die Schublade arbeitet.

Am Schluss zeigte sich Dr. Beckstein optimistisch, dass Bürgerräte mit dazu beitragen können, die Distanz zwischen Wählern und Gewählten zu verringern. Schon deshalb lohne es sich, über solche Instrumente nachzudenken. Das ändere nichts an dem grundlegenden demokratischen Prinzip, dass die Mehrheit entscheidet, und zwar im verfassungsrechtlichen Rahmen, setzte er hinzu. Demokratie brauche Zeit, um in Rede und Gegenrede Sachverhalte ausdiskutieren zu können. Manches werde dadurch leider auch verzögert. „Ich will mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich um dieses Thema kümmern; denn es gibt keine Demokratie ohne Demokraten und ohne Menschen, die sich aktiv um unser Gemeinwesen kümmern“, lobte Beckstein abschließend die Veranstalter des ersten Bürgerforums für lebendige Demokratie und Toleranz Deggendorf.