Teilnehmerzahlen bei Kundgebungen
350 oder 1200 – wie viele haben in Deggendorf demonstriert?

08.02.2024 | Stand 08.02.2024, 5:00 Uhr

Dienstagabend, 18.30 Uhr: Die Kundgebungsteilnehmer stehen von der Bühne vor dem Alten Rathaus bis zur Einmündung Metzgergasse auf der vollen Breite recht dicht. − Quelle: webcam.deg.net

Wie viele waren es denn? Nach Demonstrationen oder Kundgebungen ist das eine der wichtigsten Fragen, aber auch eine der schwierigsten. Im Freien, ohne jede Zugangskontrolle kann es sich nur um Abschätzungen handeln. Nachdem die Polizeischätzung von etwa 350 Teilnehmern bei der Kundgebung am Dienstagabend bei den Verantwortlichen und manchen Teilnehmern für Unverständnis gesorgt hatte (was regelmäßig, überall im Land und bei allen möglichen Veranstaltern passiert), erläutert die DZ: Wo kommen die Zahlen her und wie verlässlich können sie sein?

Sie sei „sehr verärgert darüber, dass in Ihrer Berichterstattung davon die Rede ist, dass es 350 Teilnehmer und bei der letzten Demo 500 Teilnehmer gab“, schrieb Teilnehmerin Petra Bachmeier an die DZ. „Die Zahlen bzgl. der letzten Demo wurden nachträglich von der Polizei von 500 auf 800 hochgesetzt. Und jeder, der auf beiden Demos war, weiß, dass wir gestern mehr waren!“ Eine „derartige Verniedlichung der Demo“ spiele der AfD zu.

Die Zuschrift der Leserin begründet recht gut, warum Journalisten vermeiden, selbst Teilnehmerzahlen zu schätzen, sondern sich Quellen dafür suchen. Veranstalter sind nicht objektiv und deshalb keine optimale Quelle für solche Zahlen. Die Polizei oder andere beteiligte Behörden haben kein Interesse, zu hohe oder zu niedrige Zahlen zu nennen. Allerdings ist die Ermittlung einer möglichst exakten Teilnehmerzahl zur Einordnung des Erfolgs oder Misserfolgs einer Demo überhaupt nicht deren Aufgabe. Die Einschätzung brauchen sie selbst nur, wenn es um Fragen der Sicherheit geht.

Polizei und Ordnungsamt schätzen nur grob



In der Deggendorfer Praxis wird fast jede Kundgebung vom Leiter der Polizeiinspektion oder seinem Stellvertreter sowie von Thomas Kindel, Leiter des Sachgebiets „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“ am Landratsamt, vor Ort beobachtet. Sie sind für die Reporter die Ansprechpartner, wenn es um die Frage geht: Wie viele sind es denn heute? Als Antwort kommt dann eine Schätzung aus dem Bauch heraus. Ob die systematisch zu hoch oder zu niedrig ausfällt, bleibt dabei offen. Weil Kindel und die Führung der Polizeiinspektion – im Fall von Kindel seit vielen Jahren – immer vor Ort sind, sollten zumindest grobe Vergleiche zwischen einzelnen Kundgebungen einigermaßen passen.

Markus Völkl, der Leiter der Polizeiinspektion Deggendorf, und Thomas Kindel schätzten die Teilnehmerzahl am Oberen Stadtplatz am Dienstag etwa eine Viertelstunde nach Beginn auf 350 im Vergleich zu 500 bei der Kundgebung von „Demokratie leben“ am Holocaust-Gedenktag. Dass die Polizei die Zahlen zur ersten Kundgebung nachträglich korrigiert habe, wie auch in der zitierten Leserzuschrift behauptet wurde, bestritt Völkl.

Grüne Jugend: Bei Demo 865 Unterschriften gesammelt



Damit könnte die Erläuterung, wie die Zahlen zustande kommen, schon zu Ende sein. Im Fall der Kundgebung am Dienstagabend gab es allerdings eine Besonderheit: Die Grüne Jugend hat vor Ort Unterschriften gegen den Aschermittwoch der AfD in Osterhofen gesammelt. Laut Haupt-Organisator Matthias Denk waren es 865. Weil nicht jeder unterschrieben hat, kommt er zu dem Schluss: Bei der Kundgebung waren „locker über 1000 Menschen, wahrscheinlich sogar ca. 1200“.

Webcam-Bilder zeigen die Kundgebungen



350 oder über 1000 – bei der Abschätzung, was näher an der Wahrheit liegt, hilft eine weitere Besonderheit: Die Webcams auf dem Rathausturm archivieren alle 15 Minuten ein Foto. Das Archiv ist zurück bis 2009 öffentlich abrufbar. Die Fotos zeigen die Webcam-Aufnahmen der Kundgebung gegen Rechtsextremismus vom Dienstagabend und vom Samstag, 27. Januar. Außerdem zum Vergleich die AfD-Wahlkampfkundgebung mit Alice Weidel am Samstag, 16. September 2023. Damals hatte die AfD von mindestens 1000 Leuten gesprochen, die Polizei hingegen von 200 Personen, die der Kundgebung eindeutig zuzuordnen seien, und weiteren 150 an den Rändern.

Was sofort auffällt: Am 27. Januar belegte die Kundgebung eine größere Fläche als am Dienstagabend, dafür standen die Leute viel lockerer. Vom Rand aus ist das wohl kaum zu erkennen. Das dürfte der Hauptgrund für die Einschätzung von Völkl und Kindel sein, die zweite Kundgebung sei etwas kleiner gewesen als die erste – was die Webcam-Fotos nicht unbedingt stützen.

Menschen standen auf etwa 700 Quadratmeter



Ein weiteres Hilfsmittel bei der Abschätzung der Teilnehmerzahlen bieten Kartendienste wie der Bayernatlas der Bayerischen Vermessungsverwaltung. Damit lässt sich ausmessen: Die Fläche, auf der die Teilnehmer am Dienstagabend standen, ist etwa 700 Quadratmeter groß. Bei einer Person pro Quadratmeter steht man durchaus locker, der Nachbar ist etwa eine Armlänge entfernt. Nach den Webcam-Aufnahmen sind die Menschen am Dienstag deutlich dichter gestanden. Somit erscheint es plausibel, dass es mehr als 1000 Teilnehmer waren.

Zugleich deutet die Abschätzung über Webcam-Bilder und die Fläche darauf hin, dass Zahlen der offiziellen Quellen regelmäßig zu niedrig ausfallen. Wer es genau wissen möchte, wie viele es jeweils waren, kann dank des Webcam-Archivs nachzählen...