Bilanz für 2023
Über 1000 Einsätze, 22 Tote: Bergwacht-Region Chiemgau blickt auf anspruchsvolles Jahr zurück

26.04.2024 | Stand 26.04.2024, 14:18 Uhr

Die Bergretter bei einem Lawineneinsatz am Jenner. − Foto: BRK

Die Bergwacht-Region Chiemgau hat bei ihrer Jahreshauptversammlung auf ein anspruchsvolles Jahr mit 1046 Einsätzen (2022: 1071) und 22 (17) Bergtoten zurückgeblickt – darunter über ein Drittel Rettungen mit Hubschraubern und knapp unter einem Drittel mit Notarzt.



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„Vor allem bedingt durch das jeweilige Einsatzgebiet und den dortigen Tourismus waren die Bereitschaften unterschiedlich intensiv bei Rettungen gefordert“, erklärt Regionalgeschäftsführer David Pichler, wobei die absolute Zahl der Einsätze nicht unbedingt auch immer den tatsächlichen Aufwand widerspiegle, da die meiste Zeit neben Pflege und Unterhalt von Gebäuden, Fahrzeugen und Ausrüstung in die Aus- und Fortbildung der Retter investiert werde.

Spitzenreiter bei den Einsatzzahlen waren wieder Berchtesgaden (338), Reit im Winkl (286; mit Schwerpunkt im Wintersportgebiet Winklmoos-Steinplatte), Ramsau (131), Bad Reichenhall (86; mit Unterstützung durch Freilassing und Teisendorf Anger) und Ruhpolding (55) – gefolgt von Marktschellenberg (34), Bergen und Marquartstein (jeweils 29), Inzell (17), Grassau (13), Schleching und Teisendorf-Anger (jeweils 10) und Traunstein (8). Jeweils über ein Viertel aller Einsätze betrifft die Sportarten Skifahren und Wandern, dicht gefolgt vom alpinen Bergsteigen, Radfahren (mittlerweile fast die Hälfte der Unfälle mit E-Bikes), Snowboarden, Klettern, Gleitschirmfliegen, Langlauf, Klettersteiggehen, Skibergsteigen, Rodeln und Schneeschuhgehen.

Mehr Notfälle mit E-Bikes und in Klettersteigen

Regionalleiter Dr. Klaus „Nik“ Burger und sein Stellvertreter Michi Holzner stellen eine deutliche Zunahme von Notfällen in Klettersteigen und Unfällen mit E-Bikes im alpinen Gelände fest: „Das Begehen von Klettersteigen wird auch für nicht ausreichend Geübte immer attraktiver, und es zieht tendenziell mehr E-Bike-Fahrer ohne die notwendigen technischen oder konditionellen Fähigkeiten ins Gebirge.“ Burger, auch Vorsitzender des Deutschen Gutachterkreises für Alpinunfälle, appelliert, sich selbstkritisch einzuschätzen und mit Ressourcen unterwegs zu sein: Mental, konditionell und vor allem hinsichtlich der Ausrüstung. Ein kleiner Rucksack mit Wind- und Regenschutz, Biwaksack, Rettungsfolie, Mütze und Handschuhen, Grödel für Altschneefelder besonders im Frühjahr, Stirnlampe, Nahrung und Getränk sowie ein Handy mit aufgeladenem Akku sollten Standard sein, auch bei zunächst geplanten kleineren Touren. „Berge ohne Abgrund sind keine Berge, und ein Restrisiko bleibt immer. Aber mit dem Mut, auch mal rechtzeitig umzukehren, mit der richtigen Vorbereitung und der angemessenen Ausrüstung lässt sich so manche bedrohliche Situation vermeiden oder zumindest einigermaßen beherrschen“, erklärte Burger.

Bis 2026 ist die Handy-App-Alarmierung der Bergretter durch das Spenden-Projekt der heimischen Brauereien finanziert – für die Zeit danach sucht die Bergwacht noch nach Sponsoren.

Die ehrenamtlichen Revisoren Siegi Fritsch (Freilassing) und Engelbert Mayer (Inzell) zollten der Geschäftsführung Anerkennung und empfahlen die Entlastung der Regionalleitung, die einhellig gewährt wurde.



Großes Fest zum „100-Jährigen“ steht bevor


Die Bergwacht-Region Chiemgau ist aktuell schwer beschäftigt, um die 100-Jahr-Feier am 22. Juni rund um das alte Kurhaus in Bad Reichenhall vorzubereiten: Von 11 bis 16 Uhr findet dort ein Tag der offenen Tür statt – mit Vorführungen der Spezial-Einsatzkräfte und Kletterturm ab 17 Uhr und anschließendem Festakt mit Vertretern aller 15 Bereitschaften aus den Landkreisen Altötting, Traunstein und Berchtesgadener Land, wobei Staatsministerin Michaela Kaniber die Festrede hält und Festleiter Winfried Renner (Ruhpolding) durch ein buntes Abendprogramm führt.

Von Krisenintervention über Brandbekämpfung bis Höhlenrettung: Bergwacht ist breit aufgestellt

Wie breit aufgestellt die Bergretter in der Region sind, wurde in den Berichten aus den einzelnen Sparten deutlich.

Skiwacht blickt in ungewisse Zukunft

Zweiter Regionalleiter Michi Holzner ist im Winter beruflich Koordinator der Skiwacht vom Roßfeld im Osten bis zur Winklmoosalm im Westen. Er blickt mit seinem Team in eine ungewisse Zukunft, da es den durch die Stiftung Sicherheit im Skisport finanzierten Vorsorgedienst fürs Skifahren nicht mehr geben wird, wo Skigebiete schließen und nicht weiter zertifiziert werden. Die touristische Neuausrichtung der Lift- und Gastronomie-Anlagen werde aber nicht verhindern, dass es im Winter weiter Verletzte und Erkrankte am Berg gibt. Bereits jetzt seien mancherorts die Hälfte der Patienten Rodler und Schlittenfahrer. Diese zusätzlichen Einsätze forderten auch unter der Woche die Ehrenamtlichen der Bergwacht, wenn die professionelle Skiwacht abgezogen wird.

Anwärter werden im Skifahren schlechter

Die Bergwacht-Region Chiemgau ist auch für Eignungstests und Prüfungen der angehenden Bergretter zuständig: Ausbildungsleiter Christian Auer und sein Team konnten mit Unterstützung der Betreiber und Wetterglück sowohl den Winter-Eignungstest am Jenner als auch die Winter-Prüfung am Roßfeld erfolgreich durchführen, blicken aber wegen der immer milderen Winter in eine ungewisse Zukunft. Auer bedauert, dass die Anwärter im Skifahren, insbesondere abseits der Piste, tendenziell immer schlechter werden. Er sieht weder ein gesellschaftliches Problem noch die kurzen Winter als Ursache. Seiner Einschätzung nach sind die Pisten in den Skigebieten so gut präpariert, dass man dort nicht lernt, auch unter anspruchsvolleren Bedingungen souverän zu fahren.

24 Einsätze in der Krisenintervention

Evi Partholl und ihr 17-köpfiges Team vom Kriseninterventionsdienst (KID) der Bergwacht kümmern sich in den schwersten Stunden um betroffene Kameraden und Angehörige nach dramatischen und tödlichen Bergunfällen. 2023 mussten sie im Chiemgau 24 Mal ausrücken: Vermisstensuchen mit ungewissem Ausgang, Abstürze, Wiederbelebungen von internistisch Erkrankten, Suizide, ein abgestürzter Gleitschirmpilot, Lawinenopfer, ein sehr schwerer Radsturz.

Die derzeit drei KID-Anwärter sind bis Ende Mai so weit, dass sie zu zweit mit einem erfahrenen Kameraden Einsatzerfahrung sammeln können. Zwei Krisenberater sind im neu aufgestellten zehnköpfigen Bayern-Lehrteam dabei, das heuer drei Eintages-Fortbildungen geplant hat, unter anderem zur Betreuung von betroffenen Kindern, wobei Partholl vorab an der Uni Innsbruck dazu eine fachspezifische Schulung absolviert hat. Die bayernweite KID-Berg-Hotline wird nur noch von Ehrenamtlichen im Schichtdienst gestemmt – drei der 16 Frauen und Männer kommen aus der Region Chiemgau, wobei Partholl eine von drei landesweit verantwortlichen Koordinatoren ist.

Spezialisten für alpinen Vegetationsbrand

Nico Perzl berichtete als Vertreter der in Altötting mit einem Umwelt-Anhänger stationierten Spezialistengruppe für den alpinen Vegetationsbrand davon, dass es 2023 nur drei Einsätze gab (im August unter anderem bei Bergwaldbränden in den Ammergauer Alpen und an der Karschneid im Lattengebirge sowie beim Brand der Weittal-Hüttn im Hochstaufen-Massiv), seine Leute aber sehr viel unterwegs sind, landes- und bundesweit (Thüringen, Rheinland-Pfalz) und international (Polen) mit anderen Fachgruppen von Bergrettung und Feuerwehr gemeinsam üben und voneinander lernen. Regionalleiter Burger bedankte sich angesichts der durch den Klimawandel zunehmenden Georisiken und Umwelteinsätze im alpinen Gelände für das Engagement der Bergwacht Altötting.

Technikbus ist nach zehn Jahren etabliert

LKLD steht für Lokalisation, Kommunikation, Lagedarstellung und Dokumentation – die Einsatzleiter der örtlichen Bergwacht, die den Dienst meist für Vermisstensuchen anfordern, sprechen aber schlichtweg vom Technikbus, den es seit zehn Jahren in der Region Chiemgau gibt und der mit bisher 186 Alarmierungen heuer voraussichtlich zum 200. Einsatz ausrücken wird. Alex Beaury und sein Team waren 2023 bei 21 Einsätzen gefordert – meist weil sie mit ihrer Hochleistungswärmebilddrohne, die auch einen starken Scheinwerfer hat, Vermisste suchen mussten. Neu im Bus ist neben dem Starlink-Internet und einer Software zur Lagedarstellung ein mobiles Strom-Aggregat, mit dem man die Bergwacht Drohnen-Akkus nachladen oder über ebenfalls neuen Lampen Einsatzstellen ausleuchten kann. Mittlerweile hat sich eine Projektgruppe formiert, da das aktuelle Fahrzeug bereits zwölf Jahre alt ist und irgendwann ausgetauscht werden muss.

Notfallmedizinische Aus- und Fortbildung

Dr. Enrico Staps berichtete als Ressortleiter für die Notfallmedizin von elf aktiven Bergwacht-Notärzten im Chiemgau und weiteren elf Anwärtern, die als Bergretter oder Notarzt in Ausbildung sind. Für die gesamte Region bestehe laut Staps ein Bedarf von 15 Ärzten, die regelmäßig Einsätze übernehmen und für die die nicht billige notfallmedizinische Ausrüstung, Fahrzeug- und Funkausstattung finanziert wird. Man tausche sich bei Treffen regional, landesweit und auch grenzüberschreitend mit Kollegen aus und sei vor Ort für die notfallmedizinische Aus- und Weiterbildung aller Bergretter verantwortlich.

Naturschutzprüfung rund um Falkenstein

„Interessierte aus den Bereitschaften sind herzlich eingeladen, einmal selbst bei der Naturschutzprüfung mitzugehen“, sagte Franz März aus Altötting, der seit vielen Jahren das Ressort Natur- und Umweltschulz verantwortet und mit seinen Mitstreitern Veit Heigenhauser (Reit im Winkl), Maria Kamml (Inzell), Micheli Bader (Marquartstein), Anderl Neumeier (Berchtesgaden), Wolfgang Obermeier (Grassau), Hanna Hirschbichler (Ramsau), Simon Maier (Freilassing), Kathi Hallweger (Bergen) und Robert Beilhack (Ruhpolding) jährlich den Prüfungsausflug für die Anwärter organisiert. Dieser findet am 13. Juli wieder im Falkenstein-Gebiet bei Inzell statt. Im Gelände müssen die angehenden Bergretter ihr im E-Learning angeeignetes Wissen bei einer mündlichen Prüfung während der Wanderung unter Beweis stellen.

Höhlenrettung und Hundestaffel

Höhlenrettungschef Hubert Mayer bedankte sich bei allen Mitwirkenden der von der Bergwacht Freilassing am Müllnerberg ausgetragenen nationalen Höhlenrettungsübung. „Die von Christian Schieder geführte und von Mitgliedern der Bergwacht und der Wasserwacht besetzte Canyon-Rettungsgruppe für wasserführende Schluchten und die Lawinen- und Suchhundestaffel unter leidenschaftlich gelebter Führung von Stefan Strecker sind unverzichtbare Spezialeinheiten im Aufgabenspektrum der Bergwacht“, lobte Regionalleiter Dr. Klaus Burger.

Schnittstellenarbeit im Ressort Einsatz

Andreas Zenz leitet das anspruchsvolle Ressort Einsatz, das aufgrund der vielfältigen Notfälle am Berg durch viel Erfahrungsaustausch und Schnittstellenarbeit mit den Einsatzleitern in den 15 Bereitschaften und mit Partner-Organisationen wie Heli-Betreibern, Leitstellen und Katastrophenschutz-Behörden geprägt ist. Als wichtiger Player im Katastrophenschutz (Hochwasser, Schnee, Felssturz, Waldbrand) hat die Bergwacht ihre Ausrüstung und Ausbildung so optimiert, dass sie auch an abgelegenen Orten Einsätze bei größeren Schadenslagen über längere Zeit gut leiten und koordinieren kann.

Infos aus den BRK-Kreisverbänden

Bruno Mayer und Helmut Lutz sind Vertreter der Bergwacht in den Vorständen der BRK-Kreisverbände Traunstein und BGL. Mayer erzählte vom geplanten Katastrophenschutzzentrum, das das Traunsteiner Rote Kreuz in Siegsdorf bauen will, und rief die Bergwachten dazu auf, sich in der Kreisgeschäftsstelle zu melden, da Ehrenamtliche für den per Handy-App alarmierten Hintergrunddienst für die rund 1000 Hausnotruf-Teilnehmer und die Betreuung von Blutspendern gesucht werden. Lutz berichtete, dass bei der jüngsten Vergabe eines neuen Rettungswagen-Standorts im Gemeindegebiet von Saaldorf-Surheim erstmals ein günstigerer privater Anbieter aus Niederbayern den Zuschlag bekommen hat und das BRK im Berchtesgadener Land ab 2025 nicht mehr allein für die Notfallrettung verantwortlich ist. - ml/red