Unterwegs in Lappland: Sommerfrische mit Rentier

01.09.2023 | Stand 12.09.2023, 22:31 Uhr

Ungeschriebene Regel im Straßenverkehr: Das Rentier hat immer Vorfahrt. Die Tiere sind in der Überzahl: 200000 Rentiere, aber nur 185000 Menschen gibt es in Lappland. −Fotos: Detzel

Der Norden Lapplands hat die sauberste Luft und das sauberste Wasser Europas. Es gibt viele Rentiere und noch mehr Wald. Im Sommer sind die Tage endlos hell, aber kühl.

Grün beruhigt. Mit sofortiger Wirkung. Soeben in Ivalo dem Flugzeug entstiegen, steht man auf dem Rollfeld und sieht nichts als Wald. Das ist also der Norden Lapplands. Sogar der Weihnachtsmann lebt dreieinhalb Autostunden weiter im Süden, unten am Polarkreis. Es fühlt sich an wie das Ende der Welt. Doch Ivalo ist mit seinen 3400 Einwohnern der größte Ort weitum. Hier pulsiert aus Sicht der Einheimischen das Leben.

Ivalo ist zugleich das Tor ins Wintersportgebiet Saariselkä. Die bis in den Mai zum Langlaufen genutzten Loipen werden im Sommer zu endlosen Rad- und Wanderwegen. Für die frisch angereisten Deutschen gibt es erstmal Nachhilfe in Sachen Entschleunigung. Im Wald, wo sonst. „Ihr müsst euch langweilen. Euer Gehirn braucht das“, fordert Minna Kataja auf. Ganz so leicht ist das nicht, die Gedanken wollen wandern. Mit Minnas Hilfe gelingt es, sich immer nur auf einen Sinn zu konzentrieren: Wie der Waldboden nachgibt, wie die Birkenblätter riechen und schmecken, welche Geräusche es in all der Stille zu hören gibt. Zum Glück belässt sie es dabei, sich an einen Baum anzulehnen und die Rinde am Rücken zu fühlen. Umarmen wäre etwas viel gekuschelt für den ersten Tag.

Nach einer Stunde Waldbaden sind gerade mal 700 Meter Wegstrecke geschafft. Aber Zahlen zählen nicht, so wie es beim Wandern weder Gipfelkreuze noch Höhenmeter zu zählen gibt. Egal ist, ob das Haar voll Kiefernadeln oder das wetterfeste Outfit unvorteilhaft ist. „Hier zählt nur, wie du dich fühlst“, erklärt die 38-Jährige. Ihr Wissen gibt sie in Kursen weiter – je nach Saison beim Waldbaden, Pilze- und Kräutersammeln, Outdoor-Kochen, Langlaufen, Schneemobilfahren und Schneeschuhwandern.

Dabei vermittelt sie auch das besondere Verhältnis der Finnen zum Wald („Wenn meine Oma gesagt hat, sie hat heute Kirchentag, dann ging sie Beerenpflücken im Wald“) und zur Sauna („Draußen sind uns 24 Grad zu heiß, aber in der Sauna beschweren wir uns, dass 70 Grad zu kalt sind“). Einen Tipp hat Minna für alle ihre Touristen: „Nur da sein, nichts tun!“

Doch zum Nichtstun sind wir nicht da. Wir wollen den finnischen Sommer auskosten, mit dem Elektro-Fatbike mühelos durch den Wald radeln, Blau- und Moltebeeren pflücken, am Lagerfeuer Pfannkuchen backen und in der Sauna schwitzen.

„Gold kann man nicht essen, Rentiere schon“

Und wir wollen beim Goldwaschen unser Glück versuchen. Dazu geht es in den Lemmenjoki National Park. Es ist der größte Finnlands. Hier ist die Wildnis noch echt, und die Zahl der Rentiere übersteigt die der Menschen ums Zehnfache. Nicht wenige dieser Rentiere gehören der Familie Paltto. Wie viele, das fragt man nicht. Da könnte man auch gleich direkt nach dem Kontostand fragen.

Andere Fragen beantwortet Nils-Heikki Paltto während der Bootsfahrt hinein in den Nationalpark gerne. Für Urlauber haben er, sein Bruder und sein Vater nur im Sommer Zeit. Dann sind die Rentiere im Wald auf sich alleine gestellt, nachdem die Jungtiere im Frühjahr ihre Ohrmarkierungen erhalten haben. Ab Oktober sind die Männer damit beschäftigt, die Tiere zusammenzutreiben, zu selektieren und zu schlachten. Sind sie dann in ihrem Wintergebiet, muss täglich nach ihnen geschaut werden. „Ende Mai kommen die Jungtiere zur Welt, und ein neues Rentierjahr beginnt“, schildert Nils-Heikki sein Jahr. Der junge Mann erzählt bedächtig, macht lange Pausen. Nur auf die Frage, ob er immer schon Rentierzüchter sein wollte, antwortet er ohne Zögern: „Jeah.“ Und ja, er habe schon mal woanders gelebt. „Ich war in Ivalo auf der Schule.“ Ach ja, der Ort eine Autostunde weiter im Süden, da wo der Flughafen ist.

20 Kilometer Bootsfahrt sind es, über glasklares Flusswasser, am Ufer nichts als grüner Wald, die Deutschen wegen des frischen Wetters in Ganzkörperanzüge gesteckt, wie Nils-Heikki einen trägt, wenn er mit dem Schneemobil über den zugefrorenen Fluss fährt. Dann ist der Goldclaim erreicht. Seit über zehn Jahren ist der Abbau mit Maschinen verboten. Gold gewaschen wird nur noch per Hand mit Pfanne. Nils-Heikkis Leute, das Volk der Samen, konnte den Goldrausch der Menschen aus dem Süden nie nachvollziehen. Denn: „Gold kann man nicht essen, Rentiere schon.“

Von Letzterem kann man sich nach der Goldwäsche – sie endet ohne plötzlichen Reichtum – überzeugen. Einen großen Topf Rentiersuppe hat Nils-Heikki über dem offenen Feuer erhitzt. Das Fleisch ist dunkel, weich, mager und schmeckt überhaupt nicht nach Wild.

Während seine Gäste essen, singt Nils-Heikki. Wobei der Joik, der gutturale Gesang der Samen, streng genommen kein Gesang ist, sondern mit dem Jodler verwandt. Die von einer Generation an die nächste mündlich weitergegebenen Joiks handeln von Menschen, der Natur und den Tieren. Nils-Heikki ist bescheiden. Er singe gerne unter der Dusche oder alleine auf dem Schneemobil, sagt er.

Dass er ein bekannter Joik-Sänger ist, verrät später seine Mutter Kaja. Sie ist Künstlerin und verkauft in ihrem Atelier Näharbeiten. Ihre schönsten Kunstwerke aber, die näht sie nur für die Familie. Die Tracht der Samen gibt es in keinem Geschäft zu kaufen, die fertigt jede Familie für sich. Jedes Stück ist Handarbeit, von den rot-blauen Kleidern über die bestickten Kopfbedeckungen und Gürtel bis zu den Schuhen aus dem Beinfell der Rentiere. Bis zum Frühjahr wird sie beschäftigt sein, schließlich sollen ihr Mann, drei Kinder, die Schwiegerkinder und drei Enkel neue Schuhe bekommen.

Die Knopfform der Samen verrät, ob man Single ist

Längst sind die Samen sesshaft – die Palttos leben seit sechs Generationen in Lemmenjoki. Im Alltag tragen sie Jeans, doch zu Festen und offiziellen Anlässen holen sie die Tracht hervor. Und die, so verrät Kaja, offenbart alles: Familien- und Ortszugehörigkeit, Alter, Geschlecht, ob man verheiratet ist oder Single. „Letzteres ist für die jungen Leute auf Partys sehr praktisch“, schmunzelt Kaja. Der Bayer kann es nachvollziehen: Nur dass in Lappland statt der rechts oder links an der Dirndlschürze gebundenen Schleife die Form der Knöpfe – eckig oder rund – der Noch-zu-Haben-Indikator ist.

90 000 bis 140000 Samen gibt es heute in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. Viel über die Geschichte des indigenen Volks gibt es im Sami-Museum Siida in Inari zu erfahren. Der kleine Ort ist Zentrum der samischen Kultur und Sitz des samischen Parlaments, das dem finnischen Justizministerium untersteht.

Auch Petteri Valle ist Same. Er findet es gut, dass „der unsichtbare Teil der finnischen Kultur“ wieder an den Schulen gelehrt wird. In seiner Kindheit war das anders. Mit seinem Hotel in Utsjoki, weit vom Geschehen und 120 Kilometer vom nächsten Geldautomaten entfernt, leistet er seinen Beitrag. Im Restaurant klingt samische Musik aus den Lautsprechern, Rentier-Burger stehen auf der Karte, als Souvenir gibt es „Kuksa“ zu kaufen, handgeschnitzte Kaffeebecher aus Birkenholz. Die Zeiten sind verrückt geworden, findet Petteri. Vor seiner Haustüre, im Fluss Teno, hat die Regierung nun das Lachsfischen verboten. Und der Klimawandel sorgte in der Vorwoche für eine Hitzewelle. 24 Grad hatte es, tagelang. Über Menschen, die im Sommer in die Hitze fliegen, kann Petteri nur den Kopf schütteln. Frische Luft, Ruhe und Trinkwasser aus dem Fluss, das sei doch der wahre Luxus.

Im Sommer 60 „nightless nights“ ohne Dunkelheit

„Alles über 20 Grad ist unangenehm“ , findet auch Raimo Hekkanen. In Nuorgam, dem nördlichsten Ort der EU, betreibt seine Familie ein Feriendorf mit Campingplatz und Hütten. 60 Tage im Jahr ist es hier oben immer hell. In diesen „nightless nights“, den Nächten ohne Nacht, organisiert Raimo Bootsfahrten bei Mitternachtssonne auf dem Teno. Danach, am Lagerfeuer, erzählt er, wie hektisch das Leben im 1300 Kilometer entfernten Helsinki sei. „Da rennen die Leute, um einen Bus zu erwischen, der zehn Minuten später wieder fährt.“ Raimo lacht schallend. „Bei uns oben kann man schon mal überlegen zu rennen, da kommt der Bus erst morgen wieder.“

Minna, die Palttos, Petteri und Raimo haben es gefunden, das berühmte finnische Glück. Es hat wenig zu tun mit Gold und Geld, aber viel mit Zufriedenheit. Sie wissen zu schätzen, was sie haben. Was andere haben und was es sonst noch gibt, ist ihnen egal. In Nuorgam, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, bestätigt der Blick über den Fluss Teno, dass sie es richtig machen: Dort drüben, am anderen Ufer liegt Norwegen. Und siehe da, der Wald ist gar nicht grüner auf der anderen Seite. Er ist einfach nur genauso grün – soweit das Auge reicht.


Redakteurin Katrin Detzel reiste auf Einladung von Visit Finland in den Norden Lapplands.


Das subarktische Lappland ist Finnlands nördlichste Region. Sie grenzt an Schweden, Norwegen, Russland und an die Ostsee.

ANREISEN
Mit Finnair in zweieinhalb Stunden von München nach Helsinki, dann noch mal eineinhalb Stunden nah Ivalo.

ÜBERNACHTEN
Dank Glasdach mit Natur- und Polarlichtblick vom Bett aus im Aurora Village Ivalo, bei samischen Gastgebern im Holiday Village Valle in Utsjoki oder in einer Hütte am Fluss im nördlichsten Ort der EU – im Feriendorf Nuorgam.

MUSEUM
Samen-Museum und Naturzentrum Siida in Inari inklusive Bauernhofmuseum.

PREISE
Finnland ist nicht billig. Die Preise im Supermarkt sind etwa wie bei uns, Hotels und Essen ein bisschen, Alkohol und Benzin deutlich teurer.

MÜCKEN
Es ist wie daheim: In manchen Sommern sind sie da, in anderen nicht. Abhängig von Temperatur und Regenmenge.

www.lapplandnorth.fi