Livigno ist in den Startlöchern für Olympia

11.03.2023 | Stand 17.09.2023, 1:11 Uhr

Livigno liegt in einer Talsenke entlang des Flusses Spöl. Auf beiden Seiten des Tals gibt es Skigebiete, die bis zu Olympia mit einer Skischaukel miteinander verbunden werden. −Foto: Samuel Confortola/Tourismusverband Livigno

Livigno entwickelt sich vom Bergdorf, das bis vor 70 Jahren nur im Sommer Zugang zum Rest der Welt hatte, zu einem Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2026. Hier zeigt sich, wie Geld die Region verändert – aber auch, wie Olympia nachhaltig gestaltet werden kann.

Eiskalter Wind pfeift durch die Via Domenion. Die Temperaturen steigen um diese Jahreszeit im Valtellina selten über den Gefrierpunkt. Wintersportler stiefeln mit geröteten Wangen und raschelnden Schneehosen in die zahlreichen Hotels und Sportartikelgeschäfte, die sich an den Bürgersteigen aneinanderreihen. Zwischen den Reklamen lugen noch stellenweise alte Bauernhäuser hervor. Mit ergrauten Holzfassaden und spitzen Dächern, die sich über die Jahrzehnte unter der Schneelast krümmten, erzählen sie von einer Zeit, in der Livigno noch kein Tourismusort war. In einem dieser kleinen Häuschen ist das Museum „MUS! Museo di Livigno e Trepalle“ untergebracht. Als die Eingangstür zufällt, verstummt das rege Treiben auf der Straße. Im Inneren ist das Museum wie ein typisches Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert ausgestattet: verwinkelte Räume mit niedrigen Decken, eingerichtet nur mit dem Nötigsten.

Durch Zollfreiheit am Leben erhalten

Bevor der Tourismus zur Haupteinnahmequelle der Region wurde, war das Leben der Einheimischen geprägt von den eisigen Wintern und der Abgeschiedenheit hoch oben in den Alpen. Trepalle, ein Ortsteil von Livigno, wird als höchster, dauerhaft bewohnter Ort Europas gehandelt. Nahe an der Grenze zur Schweiz gelegen, wurde Livigno ursprünglich aus militärisch-strategischen Gründen besiedelt.

Da auf einer Höhenlage von durchschnittlich 1800 Metern über dem Meeresspiegel weder Landwirtschaft noch Handel ganzjährig möglich waren, haben Italiens Regierende das Bergdorf über Jahrhunderte durch Zollfreiheit künstlich am Leben gehalten. „Auch heute noch ist Livigno Zollausschlussgebiet der Europäischen Union“, erklärt Desire Castellani, Mitarbeiterin des Museums. Ein Privileg, das allerdings nicht mehr viele Menschen anlockt.

„Früher sind viele Leute nach Livigno gekommen, um beispielsweise Elektrogeräte und Zigaretten zu kaufen“, sagt Castellani. Einen großen preislichen Unterschied zu den Rabattaktionen im Onlinehandel gäbe es aber mittlerweile nicht mehr, außerdem sind die zollfreien Waren pro Person streng limitiert. Im Jahr 1951 wird die Straße nach Livigno auch im Winter befahrbar – ab da verändert sich das Bergdörfchen rasant. Nur zwei Jahre später eröffnet das erste Skigebiet und „Klein-Tibet“, wie Livigno auch wegen der abgeschiedenen Lage genannt wird, erlebt einen Boom des Wintertourismus. Der Tourismusort kann bald mit zwei Snowparks, weitläufigen Langlauf-Loipen und insgesamt 115 Pistenkilometern auftrumpfen. Zwar macht die Höhenlage Livignos Skigebiete schneesicher, aber der Klimawandel hinterlässt seine Spuren.

Deshalb wird sogenanntes „Snowfarming“ betrieben: Der Schnee wird zu Hügeln zusammengeschoben und mit Planen bedeckt, damit er nicht schmilzt. So kann die Wintersaison bis in den April hinein ausgedehnt werden. Aber auch im Sommer lockt das italienische Bergdorf Sportler aus der ganzen Welt an. Insbesondere Mountainbike- und Downhillfahrer kommen hier auf ihre Kosten. Livigno ist auch ein beliebter Ort für Höhentraining. Auf einen der knapp 6000 Einwohner Livignos kommen heute etwa zwei Gästebetten.

Im Jahr 2023 angekommen steht das Dorf vor einer neuen, einschneidenden Veränderung: Wer aktuell Livigno besucht, wird Zeuge von der olympischen Geldlawine, die das Örtchen überrollt. „Auf jeder Seite des Tals gibt es Skigebiete, die bis zu den Winterspielen mit einer großen Skischaukel miteinander verbunden werden sollen“, sagt Letizia Ortalle, örtliche Tourismusbeauftragte. Außerdem werden mehrere Tiefgaragen in die felsigen Hänge gebaut, da im Dorf zu wenig Platz für die etwa 2000 benötigten Stellplätze ist. Auch Privatleute wittern ihre Chance auf ein Stück vom Kuchen. Neubauten für Hotels stehen in den Startlöchern und bereits jetzt kann man „Olympic week“-Urlaubspakete buchen.

Die Bewohner von Livigno ergreifen Gelegenheiten beim Schopf – eine Eigenschaft, die sie bereits lange vor Olympia über die Grenzen des Valtellina hinaus bekannt gemacht hat. Unter den Einheimischen heißt es, dass der Pfarrer von Trepalle als Vorlage für Giovannino Guareschis „Don Camillo“ diente. „Ich empfehle euch, Don Parenti, den Präsidenten der steuerfreien Republik Trepalle zu besuchen“, schrieb der Schriftsteller, nachdem er im Sommer 1948 das Dorf besuchte und dort den eigenwilligen Pfarrer, Don Alessio Parenti kennenlernte. „Er hält sich bereits seit 20 Jahren dort auf, ein dünner und bodenständiger Kerl. Beim Sprechen brüllt und gestikuliert er“, beschreibt Guareschis den Priester nach ihrer ersten Begegnung. Die Energie des Bergpriesters, sein Mitgefühl und vor allem sein Pragmatismus faszinierten Guareschi so sehr, dass Don Parenti zum Vorbild für die Figur des Don Camillo wurde.

Don Parenti spielt in der Geschichte von Livigno eine zentrale Rolle. Er befasste sich nicht nur mit priesterlichen Aufgaben, sondern führte das Bergdorf Stück für Stück in die Moderne. Er nutzte die Vorteile der zollfreien Zone und eröffnete die erste Tankstelle in Livigno, die auch heute noch existiert. 1936 gelang es ihm, das Pfarrhaus und andere Gebäude im Sommer durch eine Wasserturbine zu beleuchten, später durch einen Verbrennungsmotor auch das ganze Jahr über. Durch seinen Kontakt zu hochrangigen Persönlichkeiten förderte Don Parenti den Anschluss der Telefon- und Wasserleitungen und die Winteröffnung der Straße. Zum Schleichhandel über die Grenze zur Schweiz – der für viele Menschen die einzige Quelle für den Lebensunterhalt war – hatte er eine sehr persönliche Meinung: „Grenzen sind eine Erfindung des Menschen und Gott hat damit nichts zu tun.“



Ein neues Kapitel in der Geschichte Livignos


Mit Olympia 2026 beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte Livignos. Am Beispiel von ehemaligen Olympiastädten zeigt sich, dass das Megasportevent Spuren in der Gestalt und Identität des Orts hinterlässt. Doch Livigno hat es sich zum Ziel gemacht, diese Spuren nachhaltig zu gestalten. So wird es beispielsweise kein olympisches Dorf geben, stattdessen werden die Sportler und ihre Teams in Hotels untergebracht. Die Tiefgaragen dienen einem langfristigen Ziel: der Ortskern soll in Zukunft autofrei werden. Drei Jahre noch wird Livigno auf Olympia hinfiebern. Bis dahin wird sich noch vieles verändern. Doch die Einwohner Livignos sind anpassungsfähig – und sie haben die Chance, die Olympia ihrem Ort bietet, erkannt.


Stipendiatin Franziska Hierbeck reiste auf Einladung von In-Lombardia nach Livigno.


Livigno ist ein Skiresort in den italienischen Alpen nahe der Schweizer Grenze. Zum Skifahren und Snowboarden stehen 115 Kilometer Pisten zur Verfügung. 32 Lifte befördern die Gäste. Das Wintersportgebiet liegt auf einer Höhe von 1816 bis 2798 Meter.

ANREISEN
Livigno ist nicht so leicht zu erreichen: Entweder über den Flughafen Mailand, der allerdings knapp drei Autostunden vom Skigebiet entfernt ist. Dann bietet es sich an, noch eine Nacht in Mailand zu bleiben. Wer direkt nach Livigno möchte, sollte mit dem Auto fahren. Das spart unter Umständen viel Zeit.

ÜBERNACHTEN
In Livigno stehen sowohl Hotels, aber auch Pensionen und Ferienapartments zum Übernachten zur Auswahl. Zentral gelegen und guter Ausgangspunkt für die Skireise ist das Hotel „Livigno Spol“.

KULINARIK
Ein kulinarisches Muss sind die Pizzoccheri. Die Buchweizennudeln werden mit Kohl, Kartoffeln und Bergkäse serviert und sind typisch für das Valtellina. Das Rezept wird in den einheimischen Familien von Generation zu Generation weitergegeben. Geschmacklich erinnert das Gericht an Käsespätzle – perfekt nach einem langen Skitag!

http://www.livigno.eu/de