Marias Liebe zur Stille Aragoniens

28.10.2023 | Stand 28.10.2023, 11:00 Uhr
Christine Olschanski De Silva

Wenn es lange geregnet hat in den nordspanischen Pyrenäen, bilden sich für kurze Zeit traumhaft schöne Seen im Nationalpark Posets-Maladeta. Weil die autonome Region Aragonien so dünn besiedelt ist, sind Wanderer wie Mountainbiker hier noch meist allein unterwegs.  − Fotos: Christine de Silva

Ganz im Nordosten Spaniens verstecken sich zwischen engen Schluchten und hohen Pyrenäen-Gipfeln Dörfer, in denen die Zeit seit Jahrhunderten still zu stehen scheint.

Die Gassen in Montañana sind so eng, dass ein Erwachsener mit ausgebreiteten Armen die Hauswände rechts und links berühren kann. Die Kamine der gebückten Steinhäuser krönt oft ein Hexenschreck, um böse Geister vom Eindringen abzuhalten. Und den alten Schlüssel zur Kirche, die auf einem 524 Meter hohen Hügel thront, hütet Maria – jahrelang die einzige Bewohnerin des seit den 1970er Jahren verlassenen Dorfes im Vorpyrenäengebiet der autonomen Gemeinschaft Aragonien.

Wer im dünn besiedelten Nordosten Spaniens Urlaub macht, hat sich gegen Massentourismus und für das ruhige Spanien entschieden. Anfänglich verschlossen und wenig begeistert ist auch Maria, am heißen Nachmittag eine Touristengruppe zur romanischen Kapelle Santa Maria de Baldós mit den Wandmalereien aus dem 12. Jahrhundert zu führen. Sie grummelt, doch dann schnappt sich die 77-Jährige den rostigen Schlüssel und eilt in Turnschuhen, Leggins und T-Shirt so flink über das holprige Kopfsteinpflaster den Berg hinauf, dass die Besucher kaum folgen können.

Schulklassen spielen Leben im Mittelalter nach

Als sie das Interesse der Gruppe bemerkt, taut die Spanierin mit dem grauen Kurzhaarschnitt auf und gibt einen Einblick in die Geschichte ihres ganz besonderen Dorfes. So, wie es auch die Lehrer tun, die jeden Donnerstag mit Schulklassen nach Montañana kommen, um mit Lanzen und Ritterhelmen das Leben der Vorfahren im Mittelalter nachzuspielen.

Unterwegs zeigt Maria das Hospital, die Rüstkammer und den Wehrturm mit seinen Schießscharten. Blickt man vom Kirchhof über das Dorf, sieht man eine Siedlung mit roten Ziegeln auf zweistöckigen Häusern. Es gibt weder Autos noch Geschäfte oder Cafés. Die Zeit scheint irgendwann stehen geblieben zu sein.

Vor 800 Jahren lebten hier bis zu 350 Menschen – heute sind es gerade einmal acht. Sieben von ihnen sind erst während der Corona-Pandemie hergezogen, weil die Verwaltung Aragoniens kostenlosen Wohnraum angeboten hat. Als guten Geist gibt es noch Xavier, der sich im Auftrag der Kommunalverwaltung darum kümmert, dass die leerstehenden Häuser ansehnlich bleiben und die Wege nicht vom Unkraut überwuchert werden. Mit seiner Frau und den Kindern wohnt er allerdings weiter unten im Tal.

Als einzige hat Maria schon in den 1990er Jahren die meditative Ruhe und die schlichte Schönheit des vom Lauf der Zeit abgeschnittenen Dorfes für sich entdeckt. Einsam fühlt sie sich nicht, Angst hat sie auch keine. Mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann kam sie, um im Haus seiner Eltern zu wohnen. Nachdem die vier Kinder groß waren, hielt das Paar nichts mehr in Saragossa. Sie tauschten die quirlige Regional-Hauptstadt, in der 700000 der 1,3 Millionen Einwohner Aragoniens leben, gegen ein mehrere hundert Jahre altes Haus mit grandioser Aussicht, aber ohne Heizung, Strom und fließend Wasser.

Mittlerweile gibt es eine Zisterne, eine Stromleitung und Heizöl für den Bullerofen. Auch ein Garten ist angelegt. Was Maria neben eigenem Obst und Gemüse braucht, kauft sie im Städtchen Graus, wohin die Senioren der Gegend einmal wöchentlich kostenlos mit dem Taxi fahren können. Geblieben ist Maria die geliebte Ruhe. Und damit meint die Dame es ernst, Fotos mag sie nicht.

Etwas mehr los ist in Roda de Isábena. Der Ort gehörte als einer der ersten der Krone von Aragón an und entstand in unmittelbarer Nähe des Flusses Isábena. Die heutigen 25 Einwohner haben den stolzen Altersdurchschnitt von 80 Jahren, doch ihr zauberhaftes Dorf kann sich rühmen, die kleinste Ortschaft Spaniens zu sein, die eine Kathedrale besitzt. Das bringt jede Menge Besucher. Im 10. Jahrhundert hat sich in den Pyrenäen ein Widerstandszentrum gegen die maurischen Eroberer Spaniens herausgebildet, weshalb Roda de Isábena einen Bischofssitz erhielt. Die Besichtigung des Hauptaltars, des Kreuzgangs und des Sarkophags des Heiligen Ramón lohnt sich genauso wie der Besuch des alten Refektoriums, das heute als Restaurant „Le Catedral“ fungiert. In der hohen Halle mit den großen Ölgemälden wird den Gästen zum Menü-Preis von 25 Euro traditionelle Pyrenäen-Küche serviert. Einheimische schätzen besonders die schwarzen Trüffel und den Wildschweinbraten in Schokoladensoße. Nur ein paar Schritte entfernt kann man stilvoll in der historischen Herberge Hospedéria de Roda de Isábena übernachten. Den Abend lässt man im Kaminzimmer oder auf der Terrasse mit Rundum-Bergblick bei einer Flasche Somontano ausklingen.

Wer nach so viel Beschaulichkeit mehr touristische Infrastruktur braucht, der findet in Benasque (immerhin 2155 Einwohner) nicht nur einen mittelalterlichen Stadtkern und noble Herrenhäuser der Grafen von Ribagorça, sondern auch viele Hotels, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten. Den Wintersportort nutzen im Sommer vor allem Wanderer, Kletterer und Mountainbiker als Ausgangspunkt für Bergtouren in die Nationalparks Ordesa y Monte Perdido und Posets-Maladeta.

Eindrucksvolle Natur mit 13 Gletschern und 95 Seen

Aus dem Bergpanorama der Gruppe mehrerer 3000er sticht eindrucksvoll der schneebedeckte Pico d’Aneto (3404 Meter) heraus. Er ist der höchste der 13 Gletscher der Region und der Legende nach ein herzloser Riese, der einen Pilger aus seinem Territorium vertreiben wollte. Am nächsten Morgen war er zu Stein erstarrt.

Zudem lassen sich 95 Seen, zahlreiche Wasserfälle, Adler, Geier und Murmeltiere bestaunen. Wer mit Wanderführerin Annabel unterwegs ist, erfährt Wissenswertes über das Berggestein und warum das Schmelzwasser, das auf der spanischen Seite der Pyrenäen im Kalkboden versickert, sehr zum Unmut der heimischen Bauern, erst auf der französischen Seite als Bach erscheint.

Um den Weg des Wassers geht es auch bei der Durchquerung des Montsec-Gebirges. Hier hat der Fluss Noguera Ribagorçana in Jahrtausenden eine riesige senkrechte Wand geschaffen, den Congost de Mont-rebei. Wanderer werden mit spektakulären Ausblicken von den Fußgängertreppen direkt am Felsen und einer Hängebrücke belohnt. Man fühlt sich wie im spanischen Grand Canyon.

Wer viele Höhenmeter gewandert ist, freut sich auf ein authentisches Abendessen. Nur mit Zutaten aus der Region kocht Dinisio Ciria vom Restaurant El Fogaril, das zum familiengeführten Hotel Ciria im Zentrum von Benasque gehört. Feinschmeckern empfiehlt der Chef sein Wildragout und das Carpaccio vom getrüffelten Rind mit Balsamico, Parmesan und Gänseleberspänen.


INFORMATIONEN
Aragonien ist eine autonome Gemeinschaft im Norden Spaniens. Hauptstadt des dünn besiedelten Landstrichs unterhalb der Pyrenäen ist Saragossa.

ANREISEN
Flug von München nach Barcelona, dann mit dem Zug oder Bus in die westkatalonische Stadt Lleida (eine Stunde) und weiter mit Umstieg nach Benasque (1,5 Stunden). Bequemer ist ein Leihwagen.

ÜBERNACHTEN & ESSEN
•Hotel Ciria, Drei-Sterne-Unterkunft im Lodge-Stil mit Restaurant El Fogaril, Benasque, www.hotelciria.com.
•Hospedéria Roda de Isábena, Drei-Sterne-Hotel in historischen Klostermauern mit Restaurant El Catedral, Roda de Isábena, weitere Infos: www.hospederia-rdi.com.

WANDERN
Im Benasque-Tal kennen sich die Wanderführer von Guias El Run aus. Auf dem Fluss Esara organisieren sie auch Kajak-, Canyoning- und Raftingtouren, www.guiaselrun.com.

www.turismodearagon.com


Redakteurin Christine de Silva reiste auf Einladung der Provinz Aragonien und Tourespaña.