Objektkunst aus Passau
Das Leichte und das Schwere: Regine Staudt zeigt Papierobjekte in Bernried

28.07.2023 | Stand 13.09.2023, 4:16 Uhr

Aus Packpapier schuf Regine Staudt diese „Nike“. Ihr Leben als Künstlerin nahm den Anfang, als sie im Elternhaus einen Karton voller Butterbrotpapier fand. −Fotos: Gesine Hirtler-Rieger

Das Handy klingelte, als Regine Staudt im Juni gerade beim Essen im Restaurant saß. Der Direktor des Buchheim Museums der Phantasie meldete sich, er interessierte sich für ihre Papierobjekte. Ob sie ein Werksverzeichnis schicken könne?

Regine Staudt verschlug es fast die Sprache, so überrascht war sie. Das für seine Expressionisten-Sammlung berühmte Museum am Starnberger See von Lothar Buchheim wollte die Papiergeschöpfe der Künstlerin aus Passau ausstellen!

Während sie das erzählt, schenkt sie Tee ein. Auf dem Gartentisch, den eine hellblau geblümte Decke schmückt, stehen tiefblaue Tassen und Teller. Auf der Porzellan-Etagere locken Kirschen und Pfirsiche. Der Blick schweift über den Garten hinunter zum Inn und wieder hinauf zum leuchtend weißen Dom am Horizont. Alles verbindet sich zu einem harmonischen Bild.

Künstlerin, Ärztin und Psychotherapeutin

Auch in Regine Staudts Leben fügen sich viele bunte Steinchen im Lauf von sieben Lebensjahrzehnten zu einem farbenfrohen Mosaik zusammen. Dazu gehört etwa das Schneidern, das sie als Teenager von Frau Carreé lernte, die nach dem Krieg regelmäßig in Regine Staudts Elternhaus im schwäbischen Schramberg zum Nähen kam. Sie zertrennte alte Kleider und schneiderte für sie und ihre Schwester neue Röcke und Blusen. Das gefiel dem Mädchen, bis heute näht sie ihre Kleider selbst. So gewann sie den geübten Blick für Proportionen.

Auch die Sache mit dem Butterbrotpapier bildet so ein Puzzleteilchen. Einen ganzen Karton davon entdeckte Regine Staudt, als sie ihr Elternhaus vor zwölf Jahren ausräumte. Wegwerfen? Unmöglich, entschied sie und bewahrte alles auf. Als sie ein Papier zusammenknüllte, entdeckte sie das Eigenleben und die Ausdruckskraft des Materials und war fasziniert. Kurzerhand legte sie eine Plastikdecke über den großen Tisch im Wintergarten ihres Hauses, bestrich das Papier mit Kleister und formte daraus Figuren. So ging es los mit ihren Papierobjekten. Der Wintergarten ist seitdem ihr Atelier.

All dies fiel in eine Zeit des persönlichen Aufbruchs. Bis sie 65 war, hatte sie als Kinder- und Jugendärztin sowie Psychotherapeutin gearbeitet, zuletzt in einer Gemeinschaftspraxis in Fürstenzell. Sie war gerne Kinderärztin, der Beruf erfüllte sie.

Doch auch die Kunst begleitete sie von Anfang an. An der Uni Freiburg schrieb sie sich zunächst für Medizin und Kunstgeschichte ein und belegte später verschiedene Mal- und Zeichenkurse an der Universität in Portland und San Diego in den USA. Damals lebte sie mit ihrem Mann, dem späteren Ärztlichen Direktor und Chefarzt der Passauer Kinderklinik Dritter Orden, Franz Staudt, in Amerika und nutzte auf diese Weise die Kinderpause.

Diese kreative Seite hat ihr später in der psychotherapeutischen Tätigkeit einen individuellen Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Denn klar zu benennen, was die Seele quält, fällt Kindern besonders schwer. Durch Malen und Gestalten kann jedoch jenseits der Sprache etwas seinen Ausdruck finden. Und so kamen Kind und Ärztin über Farben und Formen ins Gespräch und in eine Beziehung.

„Heute ist meine Kunst so etwas wie Psychotherapie mit anderen Mitteln“, sagt die Passauerin. Über die körperlosen und doch so lebendig wirkenden Papierkokons kommt sie in Kontakt mit den Betrachtern. Was lösen diese Momentaufnahmen eines fragilen Daseins bei anderen aus? Auf 17 Ausstellungen, die meisten davon in der Region, kam sie mit Besuchern darüber ins Gespräch.

„Frauen erscheinen mir vielfältiger“

Manche Figuren werden von innen illuminiert und erstrahlen in unschuldigem Weiß. Bei anderen hat sich das stützende Gerüst im Innern verselbstständigt. Zerbrechlich wirkende Figuren aus mit Fingern gehäkeltem Draht sind so entstanden, hauchzart und doch überaus stabil. Fast immer sind es Frauenfiguren.

„Ich bin keine Feministin, aber Frauen erscheinen mir vielfältiger und sie haben feinere Antennen.“ Und sie haben eher Chancen, verschiedene Leben zu führen, fügt sie hinzu: „Ich durfte so viele Leben erforschen, als Frau, Mutter, Großmutter, Ärztin und Künstlerin.“ Keines möchte sie missen, auch wenn ihr Weg als „notorische Quereinsteigerin“ oft mühevoll war.

Als der Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, schlug sich das auch auf ihre Kunst nieder. Statt zarter Gestalten entstanden plötzlich schwere Holzstäbe, bar jeglicher Leichtigkeit. Im Moment arbeitet sie mit alten Medizinbüchern, schwergewichtige Werke, die sie in Papier einschlägt, schwarz bemalt, wachst und hinein ritzt.

Im Buchheim Museum am Starnberger See wird die Leichtigkeit mit den Papierfiguren Einzug halten. Und aktuell erblauen gleich zwei Schaufenster in der Passauer Grabengasse 2 unter ihrer Regie. „Mach mal Blau“ nennt Regine Staudt ihre Kunstaktion, wo sie ihrer Lust am Blau frönen darf. „Es ist meine Lieblingsfarbe, sie steht für Ruhe, Klarheit und Zurückhaltung“, sagt sie und streicht über ihren taubenblauen, selbst genähten Rock. Dann schenkt sie noch einmal Tee in die tiefblauen Tassen nach.

Gesine Hirtler-Rieger


•Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See: Papierobjekte von Regine Staudt von 30. Juli bis 10. September

•Aktion „Kunst im Schaufenster“ in Passau, Grabengasse 2, bis Ende des Jahres