Deggendorf
Kinderschutzbund schlägt Alarm: Inflation bringt auch Familien aus dem Mittelstand in Not

13.10.2022 | Stand 19.09.2023, 4:43 Uhr

Allein in der ersten Oktober-Hälfte sind zehn Anträge bei Yvonne Pletl-Schäfer eingegangen. Der Kinderschutzbund hilft nach Kräften aus Spendengeldern, wenn Familien in Not geraten sind. "Es wird schlimmer werden", befürchtet die Vorsitzende. −Foto: Michaela Arbinger

Es sind längst nicht mehr nur Geflüchtete oder Menschen in besonders schwierigen Lebenslagen, denen die Lebenshaltungskosten über den Kopf wachsen. Auch immer mehr mittelständische Familien können sich das Leben nicht mehr leisten.



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Es ist die so genannte untere Mittelschicht, alleinerziehende, arbeitende Mütter oder Familien mit mehreren Kindern, die sich an den Kinderschutzbund wenden, weil sie das Geld für Windeln, Lebensmittel oder das Schullandheim nicht mehr aufbringen können. Vorsitzende Yvonne Pletl-Schäfer schlägt Alarm und bittet um Spenden: "Es ist kurz vor Zwölf. Hilfe!"

Die Vorsitzende des Kinderschutzbunds Deggendorf-Plattling blättert in einem Aktenordner, in dem Anträge auf finanzielle Unterstützung abgeheftet sind. Zwei pro Monat kämen normalerweise herein, berichtet Yvonne Pletl-Schäfer. Doch vom Normalzustand muss man sich mit Blick auf rasant steigende Lebenshaltungskosten und die unsichere Weltlage wohl zunehmend verabschieden. Der Oktober ist erst zur Hälfte rum und Pletl-Schäfer fächert jetzt bereits zehn Anträge vor sich auf. "Es trifft mich, das zu lesen", sagt sie. "Und ich befürchte, das wird noch schlimmer werden. Die Energiekosten-Abrechnungen kommen ja erst und uns erreichen nur Hilferufe von Familien. Aber es sind auch viele Rentner betroffen."

"Am härtesten trifft es die, die arbeiten und keine Sozialleistungen beziehen."

Liegen die Anträge bei Pletl-Schäfer auf dem Tisch, haben Gerti Iglhaut und Mechthild Beer von der Familienhilfe die Antragsteller meist schon daheim besucht. Sie prüfen, ob die Angaben glaubhaft sind. Zu einem weitaus überwiegenden Teil gibt es keinen Zweifel daran, dass diese Menschen tatsächlich in Not sind. "Am härtesten trifft es die, die arbeiten und keine Sozialleistungen beziehen. Viele fallen komplett durchs Raster", weiß die Vorsitzende.

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Einem Antrag liegen Kopien von Kassenzetteln bei. 40 Euro bei dm für Windeln, Babynahrung oder Hygieneartikel, plus 40 Euro bei Edeka für Kartoffeln, Zwiebeln, Eier oder Honig. Eine Familie hatte darum gebeten, die 80 Euro zu begleichen.

Verstärkt, so Yvonne Pletl-Schäfer, erreichen den Kinderschutzbund derzeit Anträge auf Übernahme der Kosten für die Mittagsbetreuung an Schulen. Zum Beispiel von einem Elternpaar aus dem Landkreis. Krankheitsbedingt beziehen beide Rente und kommen auf insgesamt etwas über 1700 Euro im Monat. Das Paar kann die Kosten für das Mittagessen in Höhe von 4,70 Euro pro Kind nicht mehr leisten, will aber unbedingt versuchen, einen Eigenanteil von 1,70 Euro noch irgendwie zusammenzukratzen.

Aus vielen Briefen spricht die pure Verzweiflung

Aus vielen Briefen spricht die pure Verzweiflung. Eine jüngere Frau bittet um ein Fahrrad mit Kindersitz. Wegen der hohen Benzinkosten möchte sie vermehrt aufs Radl steigen. Von den 900 Euro Krankengeld plus 219 Euro Kindergeld, die sie bezieht, gehen allein 850 Euro für die Miete drauf. Zusammen mit dem Verein Schützenhilfe hat der Kinderschutzbund in diesem Fall geholfen.

Dringend Hilfe braucht eine Mutter eines neunjährigen Buben. Sie ist allein erziehend, verdient 560 Euro im Monat und muss einen Kredit abbezahlen. Das, weiß Yvonne Pletl-Schäfer, sei bei vielen ein zusätzliches Problem. Weil sie es unbedingt alleine schaffen wollen, zögern sie lange, bis sie sich Hilfe holen – verschulden sich, um ihre Unkosten decken zu können. Fünf Monate lang bekommt die Frau jeweils 100 Euro, damit sie einkaufen gehen kann.

125 Euro: So eine Summe geben immer noch viele eben mal so beim Shoppen aus. Für die Mutter eines Grundschulkindes aus dem Landkreis ist es schlicht unmöglich, 125 Euro zusammenzukratzen, damit ihr Sohn ins Schullandheim mitfahren kann. Am 10. Oktober hätte das Geld an die Schule überwiesen werden müssen. Mit der Beteuerung, ihr Sohn sei auch bereit, von seinem Taschengeld etwas dazuzubezahlen, wendete sich die verzweifelte Mama jetzt an den Kinderschutzbund. Für Yvonne Pletl-Schäfer und ihr Team keine Frage: "Wir helfen." Die Scham sei groß, weiß Yvonne Pletl-Schäfer. "Viele haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich an uns wenden."

Der Kinderschutzbund hilft so gut es geht aus Spendengeldern, bietet aber auch über den Kleiderladen in der Amanstraße Entlastung an. Die Vorsitzende beschäftigt die derzeitige Situation: "Ich glaube, dass mittlerweile viele hungern."

Spendenkonto: DE84741500000380020644 bei der Sparkasse Deggendorf. Mit Fragen und Problemen kann man sich per Mail an info@kinderschutzbund-deggendorf.de wenden.