Hochburg-Ach
„Stille Nacht“ – unterschiedliche Nacht?

Zwei Musikwissenschaftler untersuchen die Entwicklung des wohl bekanntesten Weihnachtsliedes

22.12.2023 | Stand 22.12.2023, 19:00 Uhr

Die Uraufführung von „Stille Nacht, heilige Nacht“ stellt die Franz-Xaver-Gruber-Gemeinschaft bereits seit vielen Jahren mit ihren Gruberspielen nach. Auch heuer waren die Aufführungen in der Burghauser Nachbargemeinde Hochburg-Ach ein großer Erfolg. − Foto: Gabriel

Von Thomas Gabriel

Es ist wohl das bekannteste Weihnachtslied der Welt und wird in 300 Sprachen und Dialekten gesungen. Seine Ursprünge liegen auf der österreichischen Seite der Salzach: Am Heiligen Abend 1818 bat der Oberndorfer Hilfspriester Joseph Mohr den aus Hochburg-Ach stammenden Arnsdorfer Lehrer Franz Xaver Gruber darum, eine Melodie für zwei Solostimmen, Chor und Gitarrenbegleitung zu einem bereits 1816 von ihm gedichteten Text zu komponieren. Noch am selben Abend führten sie es bei der heiligen Messe in der Oberndorfer Kirche St. Nicola auf. Seit diesem Abend geht „Stille Nacht“ um die Welt. So weit ist die Geschichte , die wie vor knapp zwei Wochen, jährlich von der Franz Xaver Gruber-Gemeinschaft mit den Gruberspielen groß gefeiert wird, bekannt. Weniger bekannt ist allerdings, wie sich das Lied über die Jahre verändert hat.

Damit beschäftigten sich die Musikwissenschaftler Thomas Hochradner und Wolfgang Dreier-Andres zwischen Oktober 2022 und Februar 2023 in ihrem Forschungsprojekt „,Stille Nacht!‘ im Wandel der Zeit“. Im Auftrag der „Stille Nacht Gesellschaft“ in Oberndorf und des „Salzburger VolksLiedWerkes“ untersuchten sie sämtliche im deutschsprachigen Raum greifbaren, textlichen und musikalischen Varianten. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Dezember im „Blatt der Stille Nacht Gesellschaft“.

Demnach steht das Lied, da es nur einmal im Jahr aufgeführt wird, in einer Tradition und Bindung, die vor tiefgreifenden Änderungen schützt. Zudem sei es von Beginn an meist nicht mündlich, sondern gedruckt weiterverbreitet worden, was für eine gewisse Stabilität des Werkes sorgte. Dennoch sei nach der schnellen überregionalen Verbreitung sowohl textlich, als auch melodisch stärker in das Werk eingegriffen worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten zwei voneinander unabhängige Überlieferungen existiert. Eine auf Mohr und Grubers Niederschriften basierende Version, die vor allem in Salzburg, Oberösterreich, Tirol und Bayern verbreitet war, und eine auf drei Strophen gekürzte Tradierung mit verschnörkelter Melodie, die sich im Rahmen der Drucklegung vor allem im mittel- und norddeutschen Raum etabliert hat, von dort in in die Welt zog und sich später auch im Salzburger Raum verbreitete. Vor allem der Volksmusikforscher Otto Eberhard und Grubers Enkel Felix hätten daraufhin versucht, die ursprüngliche Singweise zu fördern. Dies gelang auch, weil vor allem zu den Jubiläen auf die Ursprungsvariante zurückgegriffen worden sei. Endgültig honoriert habe die Originalversion dann die Aufnahme der sechsstrophige Variante in den österreichischen Teil des Gotteslobs 2013, die auf den damaligen Präsidenten der „Stille Nacht Gesellschaft“, Michael Neureiter, zurückzuführen sei. Grundsätzlich zeigte sich die katholische Kirche erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) offener für das Lied, schreiben Hochradner und Dreier-Andres. Zuvor sei es nur zögerlich aufgenommen worden, weil es als zu bürgerlich oder verniedlichend galt. Heute sei es in der katholischen Kirche aber zu einem „Lied für die gesamte Weihnachtszeit geworden“ und werde manchmal mit aktualisierten Strophen gesungen.

Stille Nacht, heilige Nacht:Licht erstrahlt, Welt erwachtIn dem Kind, das Maria gebar,Gottes Wort ist offenbar,Uns die Verheißung erfüllt,Uns sie Verheißung erfüllt.(2009, kath. Gemeinde in Hannover)

Betrachtet man die genaue melodische Untersuchung der erhobenen Varianten, zeigt sich, dass sich neben den in der taktweise in der Besetzung oder der zweiten Stimme geänderten Melodien auch Fragmente und bewusste Zitate der Ursprungsmelodie in anderen Liedern finden lassen. Zudem gebe es acht Neuvertonungen sowie „zersungene“ Varianten des Mohr-Textes, in denen der Text „auf vereinfachte, oft auch verschliffene Weise“ gesungen wird, beschreiben Hochradner und Dreier-Andres. Bei einem Großteil der kursierenden Versionen gebe es aber maximal marginale Abweichungen.

Bei der textlichen Untersuchung hätten sie 72 Umdichtungen des Textes von Joseph Mohr ausgemacht. Die meisten Neutextierungen stammten aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und „spiegeln die seelische und wirtschaftliche Not dieser Zeit wider“. Damals habe „Stille Nacht“, als Kennmelodie einer bürgerlichen Weihnacht, den Zirkel der Religiosität verlassen um Unmut, Heimweh oder Sorgen in Zeiten des Krieges herauszustellen.

Stille Nacht, Weihnacht,Sorge, dass sich Lieb entfachtIn den kämpfenden Reih’nLass sie sich fürder dem Edlen weih’n, Nimmer schüren den Hass.(1907, Nachlass von Alois Leeb)

Genauer führen die beiden Musikwissenschaftler aus, dass 22 Stücke den Ersten Weltkrieg aufgreifen, sieben sich mit Frieden beschäftigen und 34 soziale Kritik üben. Deutschnational oder gar nationalsozialistisch umgedichtet sei „Stille Nacht“, obwohl es während des Dritten Reichs vor allem Widerstand ausgelöst habe, elfmal geworden.

Stille Nacht, heilige Nacht,Alles schläft, einsam wachtUnser Führer für deutsches Land,Von uns allen die Sorgen er bannt, Daß die Sonne uns lacht.(1942, Fritz von Rabenau)

Nach 1945 ging die Zahl der Neufassungen zurück, wohl, so vermuten die beiden Autoren, weil man sich nach dem Missbrauch durch die Nazis wieder auf den Ursprungstext besinnen wollte. Erst seit der Jahrtausendwende seien wieder neue, vorwiegend kabarettistische Versionen wie die des Österreichers Thomas Stipsits, der in seiner Version von „Stille Nacht“ nicht nur „Ham kummst“, einen Song des österreichischen Pop-Duos „Seiler und Speer“ parodierte, sondern in ihr auch die Problematik des Glaubenskonflikt versteckt. Insgesamt seien bei der Recherche 18 Varianten mit einer satirischen Betrachtung gefunden worden.

Trotz der aufgeführten Unterschiede kommen Thomas Hochradner und Wolfgang Dreier-Andres zu dem Schluss, dass „Stille Nacht“ aufgrund seiner inneren Qualität, aber auch wegen der weitestgehend gedruckten Verbreitung, eine „relativ geringe Wandlungsfähigkeit besaß.“