Trainer in Freiburg längst Kult
Ein brutales Stück Wahnsinn: 10 Jahre Christian Streich – für viele Experten der beste Coach der Liga

29.12.2021 | Stand 29.12.2021, 8:00 Uhr

Seit zehn Jahren ist Christian Streich Cheftrainer beim SC Freiburg –im Profifußball eine Ewigkeit. Doch nicht nur deshalb ist er eine außergewöhnliche Persönlichkeit. −Foto: Weller, dpa

Das große Jubiläum ist Christian Streich nur eine kleine Flamme wert. "Vielleicht zünden wir eine Kerze an, aber mehr nicht", sagte der Trainer des SC Freiburg mit Blick auf seinen Jahrestag am Mittwoch.

Dass er die Geschicke der Breisgauer seit mittlerweile einem Jahrzehnt erfolgreich als Chefcoach lenkt, kann der 56-Jährige ohnehin kaum glauben. Viel mehr als das für ihn typische Vokabular fällt Streich deshalb zu der Dekade nicht ein: "Brutal" und "Wahnsinn".

Passend dazu war es wahnsinnig gut, was seine Schützlinge in den vergangenen Monaten abgeliefert haben. Unter Anleitung Streichs, der von zahlreichen Experten wie Kollegen als bester Trainer der Fußball-Bundesliga gesehen wird, stürmte der Sport-Club trotz bescheidener finanzieller Mittel auf den dritten Platz. Nie zuvor standen die Breisgauer am Ende der Hinrunde so weit oben. Die Teilnahme an der Champions League ist für das eingespielte Team längst keine Utopie mehr.

Diese Entwicklung war wahrlich nicht absehbar, als Streich am 29. Dezember 2011 vom Assistenten zum Chef befördert wurde. Sein glückloser Vorgänger Marcus Sorg, der Robin Dutt beerbt hatte, musste bereits nach ein paar Monaten seinen Posten räumen. Der SC hatte nur drei Siege in der Hinrunde geholt und rangierte auf dem letzten Platz. Unter Streich ging es steil nach oben – am Ende der Saison hielt Freiburg mit 40 Punkten als Zwölfter souverän die Klasse. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits deutlich, welch überragende Fähigkeiten Streich als Trainer besitzt. Alles andere als klar war allerdings, dass der mit Profi-Erfahrung und Lehramtsstudium ausgestattete Metzgersohn eine Ära prägen würde – und zwar nicht nur sportlich.

Nötig war dafür aber eine Metamorphose. Der kauzige Hitzkopf an der Seitenlinie kommt längst nicht mehr so oft wie früher zum Vorschein. Viel mehr ist Streich, für den Fußball das Größte und trotzdem nicht alles ist, zu einer moralischen Instanz aufgestiegen. Als gutes Gewissen der Liga und fast im Stile eines linksliberalen Intellektuellen prangert er Missstände und Fehlentwicklungen an – im Sport wie in der Politik und der Gesellschaft.

Um seinen alemannischen Akzent schert sich Streich dabei genauso wenig wie um die sonstigen Gepflogenheiten des Profifußballs mit seinen oftmals gebügelten Akteuren. Wenn Streich seine Ansichten teilt, Anekdoten zum Besten gibt und über Fußball philosophiert, ist er immer authentisch. Ob es dabei um seine Sorge vor Nationalismus, den Einstieg von dubiosen Investoren bei Klubs, sein Verhältnis zur Kirche, die Vor- und Nachteile einer Dreierkette, Lieblingsfilme in schwarz-weiß, Urlaubsvorlieben oder den Ablauf seiner Supermarkt-Einkäufe geht, spielt keine Rolle. Überall wo Streich drauf steht, ist auch Streich drin.

Das weiß sein Arbeitgeber zu schätzen. Seit 1995 steht Streich beim SC als Trainer unter Vertrag. Noch immer bezeichnet er den Gewinn der Meisterschaft mit den A-Junioren im Jahr 2008 als seinen größten Erfolg. Mit den Profis durfte er 2015 sogar absteigen, ohne dass eine Abberufung überhaupt im Entferntesten ein Thema gewesen ist – natürlich stiegen die Freiburger postwendend wieder auf. "Er fordert sehr viel ein an Disziplin, Detailarbeit und Aufmerksamkeit", sagt Freiburgs Verteidiger Philipp Lienhart. "Aber er hat eben auch ein unglaublich feines Gespür, wie er mit welchem Spieler umgehen muss."

Die aktuelle Winterpause verbringen die Freiburger auf dem dritten Tabellenplatz, der am Saisonende zur Teilnahme an der Champions League berechtigen würde. Die Zeiten, in denen die Breisgauer jeden Sommer ihre besten Profis abgeben mussten, scheinen vorbei. Seit Oktober spielen sie in einem neuen Stadion. Und neben dem sportlichen Erfolg genießt Streich Privilegien, die den meisten Trainern vorenthalten bleiben. Statt monatelang aus dem Koffer lebt und arbeitet er seit Jahren im gewohnten Umfeld.

Mehr als 300 Bundesliga-Spiele hat Streich als Freiburger Chefcoach inzwischen schon erlebt, 100 davon gewonnen. Wenn er "darüber nachdenke, dass mein Sohn mich quasi nur in dieser Funktion kennt und mittlerweile auch nicht mehr so klein ist, wird mir schon bewusst, was für eine lange Zeit zehn Jahre eigentlich sind", sagt Streich. Doch obwohl er unangreifbar erscheint, hält er den Rekord von Volker Finke für unerreichbar. "Nein", antwortete Streich im "Kicker" auf die Frage, ob 16 Jahre Trainer am Stück für ihn vorstellbar wären. Und doch wird Streich im Januar wie üblich seinen Vertrag um ein weiteres Jahr verlängern. Alles andere wäre eine große Überraschung – oder wie Streich zu sagen pflegt: brutal.

Aktuelle Aussagen von Christian Streich zu seinem Jubiläum



- "Fußball gehört in Deutschland seit 1954 so dazu wie Kaffeetrinken oder Zähneputzen."
(Über die Rolle des Fußballs in der Gesellschaft)

"Ich würde am liebsten ein halbes Jahr durch Indien laufen."
(Über einen Wunsch, den er noch erleben will)

"Es scheint, dass ich ein erzkonservativer Bock bin, der von der Welt spricht und immer am gleichen Ort bleibt."
(Über sich selbst)

"Ich bin total gerne in den Bergen oder am Meer, und das ist mir dann genug All Inclusive."
(Über seine Urlaubs-Vorlieben)

− sid/dpa