Zeitlose Kraft der Vernunft
Eine Würdigung zum 300. Geburtstag: Darum ist Immanuel Kant auch heute noch so wichtig

19.04.2024 | Stand 19.04.2024, 19:00 Uhr

Die Bundeskunsthalle in Bonn zeigt in ihrer Kant-Ausstellung unter anderem das Bild „Immanuel Kant am Schreibtisch“ aus dem Jahr 1872 von Johannes Haydeck. − Foto: Federico Gambarini, dpa

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Eine Krise jagt die nächste, Verunsicherung macht sich breit. Auf der Suche nach gutem Rat bietet sich ein Jubiläum an: Am 22. April jährt sich zum 300. Mal der Geburtstag von Immanuel Kant. Weltweit wird in diesen kommenden Wochen daran erinnert. Kein anderer deutscher Philosoph hat die Geschichte des Denkens so sehr geprägt und verändert. Viele seiner Erkenntnisse sind bis heute gültig. Sie können Orientierung geben in Zeiten von Krisen, Kriegen und Klimawandel.

Wie ist ein dauerhafter Frieden zwischen Staaten möglich? Diese brandaktuelle Frage beantwortet Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“. Darin schlägt er einen „Völkerbund“ vor, eine föderale Gemeinschaft freier republikanischer Staaten. Dieser Plan wurde umgesetzt, als nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund entstand, der Vorläufer der Vereinten Nationen, und nach dem Zweiten Weltkrieg die UN-Charta in Kraft trat. Wann ist eine humanitäre Intervention gerechtfertigt, eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines Staates? Auch damit beschäftigt sich Kant. Er rät zu großer Zurückhaltung, schließt aber Ausnahmefälle – etwa bei einem Völkermord – nicht aus. Zusätzlich zum Völkerrecht entwickelt Kant auch ein Weltbürgerrecht. Damit weist er jeden Kolonialismus und Imperialismus zurück und formuliert Grundzüge eines menschenwürdigen Umgangs mit Flüchtlingen: Jeder Mensch habe in jedem Land ein Besuchsrecht, aber nicht unbedingt ein Gastrecht.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren“, heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ähnlich in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Idee der Menschenwürde beruht auf dem jüdisch-christlichen Menschenbild, gilt aber auch unabhängig vom Glauben an Gott – genau das hat Immanuel Kant herausgearbeitet.

Jeder Mensch hat demnach denselben Maßstab: seine unbedingte Freiheit als Pflicht, auch gegen die eigenen Interessen und Vorlieben moralisch zu handeln. Dieser kategorische Imperativ, jeden Menschen als „Zweck an sich selbst“ zu schätzen, verbietet jede Diskriminierung. Wer dies bestreitet, widerspricht sich selbst, weil jeder auch für sich immer schon das Prinzip der Freiheit voraussetzt und in Anspruch nimmt.

„Kant ist einer der wenigen wahrhaft global denkenden Philosophen“, sagt Otfried Höffe, der die Forschungsstelle für politische Philosophie an der Universität Tübingen leitet. Er ist überzeugt: Kant würde sich heute zum Klimawandel gründlich kundig machen, die Verantwortung des Menschen herausarbeiten und Wege zur Lösung des Problems suchen.

Denn Kant setzt auf die Kraft der Vernunft. Seine 1781 erschienene Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ gilt laut Höffe als „Gründungsschrift der modernen Philosophie“. Immanuel Kant zeigt darin, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis nicht von selbst so erscheinen, sondern erst vom erkennenden Subjekt zur Erscheinung gebracht werden. Es gibt keinen objektiven Standpunkt jenseits unserer Anschauungsformen von Raum und Zeit, die wir bei allem, was wir sinnlich wahrnehmen, immer schon mitbringen. Und es gibt auch kein Bewusstsein von irgendetwas, ohne dass wir uns dabei unserer selbst bewusst sind.

Dieses Prinzip des transzendentalen Selbstbewusstseins wird zur Initialzündung des Deutschen Idealismus: In Auseinandersetzung mit Kant entwickeln Fichte, Schelling und Hegel philosophische Systeme, die weltweit diskutiert werden. Doch keiner von ihnen ist nach wie vor so anerkannt wie Kant, der im preußischen Königsberg geboren wurde, dem heutigen Kaliningrad (Russland), wo er am 12. Februar 1804 starb.

Bernward Loheide