PNP-Spendenaktion
Letzter Ausweg aus der Kriegshölle: Wie alte und kranke Ukrainer evakuiert werden

20.12.2022 | Stand 12.10.2023, 10:15 Uhr

Zu schwach, um selbst zu gehen: Helfer der Organisation Vostok-SOS transportieren eine bettlägerige Person ab. −Foto: Olha Vladymyrova

Tausende alte und kranke Menschen harren noch immer in den Frontgebieten im Osten der Ukraine aus. Selbstlose Helden evakuieren sie unter Lebensgefahr.



Menschen reagieren ganz unterschiedlich, sagt Yaroslav Korniienko im Videointerview mit der PNP: „Da war eine Großmutter, deren Haus zerbombt wurde. Sie lächelte uns an und sagte: Na, das war’s wohl. Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt.“ Andere seien furchtbar gestresst oder verwirrt, da sie wochenlang ohne Medikamente auskommen mussten. Manche weinten, manche verhielten sich unkontrolliert aggressiv.

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Kein Wunder. Wenn die Kollegen von Yaroslav Korniienko (30) ins Spiel kommen, geht es oft um Leben und Tod. Die Flucht aus ihrem Zuhause, aus ihrem gewohnten Umfeld ist der letzte Ausweg für die Betroffenen. Korniienko koordiniert für die Hilfsorganisation Vostok-SOS, einem der wichtigsten Partner von CARE in der Ukraine, die Evakuierung von Menschen aus den befreiten Kampfgebieten im Osten des Landes. Die Bilder, die er uns zur Verfügung stellt, dokumentieren die Einsätze seiner Teams. Sie sind nur schwer zu ertragen.

„Viele sind bettlägerig oder orientierungslos“

Seit März holen Rettungsteams alte, kranke oder behinderte Menschen aus zerstörten Ortschaften. „Viele von ihnen sind bettlägerig oder orientierungslos. Sie können die Evakuierungszüge oder Busse, die die Regierung zur Verfügung stellt, nicht selbst erreichen“, erklärt Yaroslav Korniienko. Hilferufe kämen aber auch von Müttern mit Kindern, die alleine und mit der Organisation der Flucht komplett überfordert seien.

Der Bedarf ist riesengroß. „Seit März haben wir an die 4000 Menschen evakuiert, die nicht mobil waren“, berichtet Yaroslav Korniienko. Zusammen mit einer Partner-Organisation, die sich „Angels of Safety“ nennt, hätten seine Mitarbeiter in den vergangenen neun Monaten insgesamt rund 35000 Personen gerettet. „Wir holen sie an ihrer Heimatadresse ab und bringen sie zu Verwandten überall in der Ukraine, in Flüchtlingsunterkünfte oder zu Sammelstellen – je nachdem, welche Kontakte die Menschen haben oder was sie gerade genau benötigen.“

Täglich in Lebensgefahr



Immer wieder komme es zu dramatischen Szenen. „Oft müssen wir Personen direkt in die Klinik bringen. Wir haben Schlaganfall-Patienten, Knochenbrüche, Schwerverletzte.“ Korniienko erinnert sich auch an Todesfälle während der Evakuierung. „Eine Frau starb im Auto. Wir waren schon auf dem Weg ins Krankenhaus, als sich ihr Zustand immer mehr verschlechterte. Wir konnten sie nicht mehr reanimieren.“

Von der Millionenstadt Dnipro aus koordiniert der 30-Jährige seine Teams, die Menschen überall im Osten abholen und in Sicherheit bringen. „Zurzeit arbeitet eine Crew in Bachmut. Hier wird noch gekämpft. Sie sind täglich ins Lebensgefahr.“

Dennoch versuchen Yaroslav Korniienko und seine Kollegen so professionell wie nur möglich zu arbeiten. Sicherheitsvorgaben werden streng eingehalten. „Wir können mit unseren Teams nicht hinter die Frontlinien. Da würden wir uns zu sehr gefährden.“ Es sei schon riskant genug, in den Gebieten zu arbeiten, die gerade erst befreit wurden. „Überall sind Minen und zerstörte, einsturzgefährdete Häuser. Straßen, Brücken, alles ist kaputt. Die humanitäre Lage dort ist verheerend“, erklärt der 30-Jährige. Hinzu käme, dass abziehende russische Soldaten die Orte noch weiter beschießen.

In Sachen Professionalisierung unterstützt CARE, Spendenpartner unserer diesjährigen Weihnachtsaktion, die lokalen Helfer in der Ukraine. „In den ersten Kriegstagen starben auch viele Helfer bei den Bombenangriffen“, erzählt Yaroslav Korniienko. „Es herrschte großes Chaos. Wir wussten, wir müssen das anders organisieren.“ Alle Mitarbeiter hätten Sicherheitstrainings absolviert. Sie seien in der Lage, gefährliche Situationen zu vermeiden. „Über eine Hotline melden sich Menschen bei uns. Wir fragen ab, wer, wo und wie viele Personen welche Hilfe nötig haben. Dann können wir angemessen auf die Notrufe reagieren und Leute losschicken.“

„Sie halten die Stellung, bis es gar nicht mehr geht“

Yaroslav Korniienko weiß aber auch, dass im Osten viele Menschen ausharren, die nicht evakuiert werden wollen. Er selbst stammt aus Luhansk, das unter russischer Besatzung steht. „Ich habe noch eine Großmutter in Luhansk. Meine andere Großmutter lebt in Donezk. Die Oma aus Luhansk war vor dem 24. Februar oft in Kiew, wo ich eigentlich wohne. Ich wollte sie raus und zu mir holen, aber sie will ihren alten Hund nicht verlassen. Gerade alte Menschen tun sich sehr schwer mit einem Ortswechsel.“

Bis Menschen sich bei der Hotline melden, haben sie oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. „Sie halten die Stellung, obwohl sie keinen Strom, kein Wasser und keine Lebensmittel mehr haben. Erst, wenn es gar nicht mehr geht, kommt der Hilferuf.“

Solange dieser Krieg andauert werden die Dienste von Yaroslav Korniienko und seiner Kollegen gebraucht. Doch die Evakuierungen verschlingen viele Mittel. „Das meiste Geld geht für den Transport drauf. Benzin, Reparaturen – das kostet viel. Wir finanzieren den flüchtenden Menschen auch Fahrkarten oder versorgen sie mit Lebensmitteln und Medikamenten. Auch unsere Teams brauchen Ressourcen“, erklärt Yaroslav Korniienko die Bedürfnisse der Helfer.

Seit neun Monaten vollbringen die Helfer an der Front jeden Tag Heldentaten. Doch ohne die Unterstützung von außen werden selbst die selbstlosesten Retter nicht ewig durchhalten können.