Leben oder Tod
Traunsteiner Dauergast Yosef Lev erlebt Hamas-Terror und hat doch Hoffnung auf Frieden

„Sind nicht die Feinde des palästinensischen Volkes“

15.11.2023 | Stand 15.11.2023, 9:41 Uhr
Andreas Wittenzellner

Yosef Lev ist ein Israeli mit deutschen Wurzeln und vielen Kontakten in den südostbayerischen Raum. Manchmal sogar mehrmals täglich muss der Rollstuhlfahrer derzeit in seinen Schutzraum flüchten, wenn Raketen auf seine Stadt geschossen werden.  − Fotos: privat

„Wenn der Raketenalarm auf meinem Mobiltelefon ertönt, habe ich rund eine Minute Zeit, meinen Schutzraum aufzusuchen“, betont Yosef Lev aus Ramat Gan, einem Stadtteil der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv. Kein ganz leichtes Unterfangen für den Israeli mit deutschen Wurzeln, sitzt er doch seit Mitte der 1990er Jahre in einem Rollstuhl. Ein inoperabler Gehirntumor, der auf die Hauptschlagader im Kopf drückt, hat „Yossi“, wie ihn seine Freunde in Israel wie auch in Deutschland nennen, aus der Bahn geworfen, eine zeitweise Erblindung inklusive. Mit seinem Wohnmobil war er in den vergangenen drei Jahrzehnten rund 25 mal im südostbayerischen Raum unterwegs und hat viele Kontakte geknüpft. Der Heimatzeitung haben er und auch Freunde aus dem Chiemgau eindrucksvoll geschildert, wie sie den aktuellen Hamas-Terror erleben.

„Lehitraot schalom“: „Bis wir uns wiedersehen, sei Friede“

Yosef Lev, Mathematik-Professor, der die Gesamtverantwortung über 1000 Schüler hatte, konnte nach seiner Erkrankung seinen Beruf nicht mehr ausüben. Nach vielen Krankenhaus-Aufenthalten, Operations-Überlegungen und einem längeren künstlichen Koma musste er fortan ein Leben im Rollstuhl führen. Für ihn kein Grund zu verzweifeln, sein Leben aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Lev, dessen Familie in den 1930er Jahren als Kaufleute nahe Oberhausen lebte und nur mit Glück rechtzeitig die Ausreise aus Nazi-Deutschland ins damalige Palästina schaffte, begann fortan, junge Studenten in seinem Zuhause in Mathematik zu unterrichten.

Und er begann zu reisen. Ständiger und unverzichtbarer Begleiter und Helfer war und ist dabei sein Assistenzhund Hairy. Der Golden Retriever, nun schon in der zweiten Generation, hat eine spezielle Ausbildung genossen.

Freundeskreis im Landkreis Traunstein und dem Berchtesgadener Land

Levs Herzlichkeit und Freundlichkeit und sein vierbeiniger Helfer verschafften ihm schnell Aufmerksamkeit. Und so entwickelte sich Anfang der 2000er-Jahre bei seinen Reisen in die Landkreise Traunstein und Berchtesgadener Land ein immer größerer Freundeskreis, den er Jahr für Jahr besuchte. Die anstrengende Flugreise von Israel über Wien nach Salzburg war ihm nicht genug: Mit seinem Wohnmobil reiste er fortan von Traunstein aus quer durch Europa. So mancher junge Student begleitete ihn dabei zum „Unterricht on the road“.

Erst in den vergangen Jahren, als sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, tauschte Lev das Wohnmobil gegen bequemere Apartments in Vachendorf und Traunstein. Obligatorisch dabei sind Besuche mit Freunden in einer Traunsteiner Eisdiele und in der bayerischen Gastronomie. Knödel mit Soße stehen dabei besonders hoch im Kurs – der Versuch, diese in Israel nachzukochen, scheiterte eher kläglich.

„Besucht mich in Israel. Es ist ein wunderbares Land.“

Für seine Freunde in Bayern hatte er zum Abschied vor dem Rückflug nach Israel immer wieder einen Wunsch parat: „Besucht mich in Israel. Es ist ein wunderbares Land.“ So empfing er 2005 eine fast 40-köpfige Reisegruppe mit überwiegend Jugendlichen aus den heimischen Landkreisen und verwandelte sein Haus für einen Tag in eine Partylandschaft. 2012 bewirtete er Freunde aus Traunstein und gab ihnen zum Abschied ein „Lehitraot schalom“ mit auf den Weg („Bis wir uns wiedersehen, sei Friede.“).

Diesen Frieden in einer spannungsgeladenen Region, einem Schmelztiegel aus Kulturen, Religionen und Menschen mit einer Herkunft aus über 100 Ländern, spürten auch die Freunde aus der heimischen Region, die ihn noch im Juni besuchten. Von dem seit 1948 schwelenden und immer wieder ausbrechenden israelisch-palästinensischen Konflikt war da wenig zu spüren. Und obwohl die vielen ungelösten Themen wie ein Damoklesschwert über dem Zusammenleben zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn hängt, hatten die Urlauber mehr den Eindruck, dass der Straßenverkehr in den großen israelischen Städten wie Tel Aviv oder gar Jerusalem das größere Risiko für Leib und Leben sein könnten als die Bedrohung durch den Terror der Hamas aus dem Gazastreifen oder der vom Iran gesteuerten Hisbollah im Norden Israels.

Chiemgauer schwimmen mit Delfinen im Roten Meer

„Für uns als Familie war und ist Israel unser Urlaubsziel Nummer eins“, sagt Tarek Nutzinger aus Vachendorf, der mit seiner fünfköpfigen Familie im Juni Urlaub in Tel Aviv machte. „Das Land hat für uns so viel zu bieten. Kulturell und auch was den christlichen Glauben und die Wurzeln unseres Bekenntnisses angeht.“ Nutzinger denkt an den abschließenden Abend mit Lev zurück: „Der Yossi kümmert sich immer voll nett um uns“, freut sich auch die 14-jährige Tochter Awa, die im Jahr zuvor mit Delfinen im Roten Meer an Israels südlicher Spitze in Eilat geschwommen ist.

„Lehitraot schalom – bis wir uns wiedersehen, sei Friede“: Es ist anders gekommen. Der 7. Oktober, an dem die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel angriffen und dabei fast 1400 Menschen tötete, hat die Welt verändert. Auch die Welt von Yosef Lev. Seither sitzt er oft mehrmals am Tag in seinem Schutzraum, der auch einem Raketeneinschlag standhält. Er hatte ihn den Besuchern aus der heimatlichen Region im Juni noch mit einem Schmunzeln gezeigt, glich dieser doch mehr einem Kellerabteil, in das sporadisch benötigte Gegenstände „aufgeräumt“ waren.

Hund Hairy läuft bei Sirenenalarm zum Schutzraum

Alle Hoffnungen, dass er diesen Raum als Schutzraum nie brauchen werde, haben sich zerschlagen. Sein Hund Hairy steht bei Alarmsirenen inzwischen selbstständig auf und läuft sofort zum Schutzraum. „Das ist ein trauriger Lerneffekt“, bemerkte Lev in einem Telefonat mit Freunden aus Traunstein. Diese halten mit ihm regelmäßig über die modernen Medien Kontakt und sitzen auch schon mal zu zwanzigst zusammen, um ihn anrufen.

„Wir werden siegen, wir müssen siegen“, betont der Israeli traurig und macht seine klare Unterstützung für das Handeln von israelischer Regierung und Militär deutlich. Und das, obwohl er politisch weit links steht und sich noch im August an den Demos gegen Israels Justizreform beteiligte. Für ihn ist die militärische Vernichtung der Hamas aber alternativlos: „Es wird keinen Frieden geben, solange uns die Hamas mit ihren militärischen Fähigkeiten angreifen kann.“ Er fügt hinzu: „Ich und wir sind nicht die Feinde des palästinensischen Volkes. Mir tut das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen unendlich leid. Wir wollen in Frieden mit ihnen leben. Aber das können wir nur, wenn uns unser Gegenüber nicht das Leben nehmen will.“

Viele seiner Studenten wurden eingezogen und müssen jetzt kämpfen

In seinem Schutzraum sitzend, denkt der 73-Jährige weniger an sich und seine Sicherheit. Er macht sich Sorgen um seine Studenten: „Viele von ihnen sind im Gazastreifen. Sie wurden sofort nach dem Terrorangriff eingezogen und müssen jetzt kämpfen.“ Lev ist froh, dass noch keiner von ihnen zu Schaden gekommen ist. Gleichwohl kennt auch er in dem kleinen Land von der Größe Hessens von der Hamas Getötete und Entführte: „Ich hoffe und bete, dass sie alle heil zurückkommen – meine Freunde und die Geiseln.“

Erst vor wenigen Tagen hat er Freunde im Chiemgau angerufen und sich für die klare Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz bedankt: „Ich habe ein Video von ihm allen meinen Studenten geschickt. Seine und die Haltung Deutschlands sind sehr wichtig und wertvoll für uns. Bitte schreibt das eurem Bundeskanzler“, so Lev, der sich vor drei Jahren selbst um die deutsche Staatsbürgerschaft bemühen wollte.

Seine positive Lebenseinstellung und sein hoffnungsvolles Gemüt will er sich trotz aller Schwierigkeiten und der katastrophalen Situation nicht nehmen lassen. „Frieden ist immer noch möglich. Aber es gilt der Spruch , der unserer früheren Ministerpräsidentin Golda Meir zugeschrieben wird: Frieden wird es erst geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“