Paukenschlag bei den Freien Wählern
Die Tücken des bayerischen Wahlsystems – Eine Analyse

Warum Gisela Sengl aus dem Landtag flog und Dr. Martin Brunnhuber und Michael Koller den Einzug schafften

12.10.2023 | Stand 12.10.2023, 10:00 Uhr

Mit einer spontanen Wahlparty in seinem Heimatort Erlstätt feierte Dr. Martin Brunnhuber (rechts) seinen Einzug in den Landtag. Zu seinem Überraschungscoup gratulierte auch CSU-Kandidat Konrad Baur, der sich das Direktmandat geholt hatte. − Foto: Müller

Für einen Paukenschlag haben die beiden heimischen Landtags-Direktkandidaten der Freien Wähler gesorgt: Wie bereits ausführlich berichtet, waren Dr. Martin Brunnhuber aus Grabenstätt (Traunstein) und Michael Koller aus Berchtesgaden (Berchtesgadener Land) zwar bei der Direktwahl ihren CSU-Konkurrenten unterlegen. Beide schafften aber über die Liste den Einzug ins Maximilianeum.

Überraschend raus ist die agrarpolitische Sprecherin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Gisela Sengl aus Sondermoning. Die beiden heimischen Landkreise sind damit in der neuen Legislaturperiode mit je zwei Abgeordneten im Maximilianeum vertreten. Die übrigen heimischen Bewerber scheiterten mehr oder weniger klar gegen ihre parteiinternen Listenbewerber.

65 Kandidaten aus Oberbayern haben es in den neuen Landtag geschafft. Beim Blick auf die Ergebnisse werden wieder einmal die Besonderheiten des bayerischen Wahlsystems deutlich: Sowohl für die Sitzverteilung, als auch für die Zuerkennung der Listenmandate zählen die Gesamtstimmen, also die Summe der Erst- und Zweitstimmen pro Bewerber. So sind also auch die Erststimmen der unterlegenen Direktkandidaten nicht „verloren“, sondern im Gegenteil für die Kandidaten im Rennen um die begehrten Listenplätze sogar von enormer Bedeutung. Entscheidend ist dann auch, wie viele Zweitstimmen die Bewerber in den übrigen oberbayerischen Stimmkreisen einfahren konnten. Dies wurde beispielsweise Gisela Sengl zum Verhängnis: 11.297 Erststimmen im Stimmkreis Traunstein bedeuteten ein Minus von 4372 gegenüber 2018. Noch viel krasser fiel ihr Zweitstimmenergebnis aus: In den anderen 30 oberbayerischen Stimmkreisen setzten nur mehr 5324 Wähler ihr Kreuz bei Sengl, vor fünf Jahren waren es schier unglaubliche 36.398 gewesen. Mit 52.067 Gesamtstimmen war die Sondermoningerin damals auf Platz drei hinter dem Spitzenduo Katharina Schulze/Ludwig Hartmann gelegen. Diesmal reichten ihre 16621 Gesamtstimmen parteiintern nur zu Platz 18. Zu Johannes Becher (19062), der als 14. und letzter Oberbayern-Grüner ein Listenmandat ergatterte, fehlten der Sondermoningerin 2441 Stimmen. Während sie 2018 in vielen Stimmkreisen drei- oder sogar vierstellige Zweitstimmenresultate eingefahren hatte, waren die Ergebnisse dieses Mal, vor allem in München und Umgebung, eine einzige Enttäuschung.

300.000 Zweitstimmen spielten bei der Vergabe der grünen Mandate keine Rolle

Im Nachhinein agierten vor allem die grünen Wähler in der Landeshauptstadt taktisch unklug: Fast 300.000 Zweitstimmen, davon allein 237.744 für Spitzenkandidatin Katharina Schulze, sind bei der Reihenfolge der grünen Listenplätze untergegangen, weil neben Schulze auch Ludwig Hartmann (40.262 Zweitstimmen), Gülseren Demirel (15.418) und Christian Hierneis (8252) das Direktmandat holten.

Das Wahlverhalten war jedoch quer durch die Parteien zu beobachten: Viele Bürger machten sich offenbar nicht die Mühe, einen heimischen Kandidaten auf dem überdimensionalen Zweistimmenzettel zu suchen, sondern kreuzten den Spitzenbewerber „ihrer“ Partei an. Diese lagen jeweils meilenweit vor ihren parteiinternen Verfolgern: Klare Stimmenkönigin in Oberbayern wurde CSU-Spitzenkandidatin Ilse Aigner , die 471.081 Gesamtstimmen verbuchte, davon sagenhafte 442.971 Zweitstimmen von außerhalb ihres Heimat-Stimmkreises Miesbach. Hinter Schulze auf Platz drei landete in dieser Wertung Florian Streibl, den die Freien Wähler Oberbayern auf Listenplatz eins gesetzt hatten, mit 108.529 Gesamtstimmen, davon 89.214 Zweitstimmen. Andreas Winhart, Spitzenkandidat der oberbayerischen AfD, kam mit 92.534 Gesamtstimmen, davon 82.151 Zweitstimmen, auf Rang vier, noch vor SPD-Spitzenmann Florian von Brunn (90651 Gesamtstimmen, davon 79.254 Zweitstimmen).

Mit gut 3506 und 3595 Zweitstimmen waren die Ergebnisse der heimischen FW-Direktkandidaten Brunnhuber und Koller recht bescheiden. Am besten waren sie im jeweiligen Nachbarlandkreis: Koller holte in Traunstein 940 Zweitstimmen, Brunnhuber im Berchtesgadener Land 892. Beide haben ihren Einzug ihren guten Erststimmen-Resultaten von jeweils über 16.000 Stimmen zu verdanken – und auch der Tatsache, dass die Oberbayern-FW im Vergleich zu 2018 drei Sitze hinzugewann. Zehn Listensitze waren zu vergeben, Brunnhuber und Koller landeten wie berichtet auf den Plätzen neun und zehn. Nur 232 (Koller) beziehungsweise 651 (Brunnhuber) Gesamtstimmen lagen sie vor Verfolger Martin Rosenberger aus Bayrischzell (Stimmkreis Miesbach), der mit der Rolle als erster Nachrücker vorliebnehmen muss.

Die Reaktionen der beiden neuen Abgeordneten fielen euphorisch aus.

Starke FW-Listenbewerber und ihr Anteil am Zugewinn von drei Sitzen

Einen Anteil am Zugewinn von drei Sitzen für die Oberbayern-FW haben auch die reinen Zweitstimmenkandidaten, allen voran Ralf Huber aus Allershausen (Landkreis Freising) mit 12.881 Zweitstimmen. Er rutschte damit von Listenplatz 36 auf Rang 22 nach vorne, unmittelbar vor die Altöttinger Direktkandidatin Mary Fischer mit 12566 Gesamtstimmen (9215 Erst- und 3351 Zweitstimmen). Respektable 5143 Zweitstimmen fuhr Konrad Unterstein aus Traunreut ein. Und Andrea Wittmann aus Truchtlaching holte vom letzten Listenplatz aus sogar 7565 Zweitstimmen, davon mit 3817 knapp über die Hälfte in ihrem Heimatstimmkreis Traunstein. Damit wurde sie vom letzten Listenplatz 41 auf Rang 25 nach vorne gespült und lag sogar vor acht FW-Direktkandidaten, die sich in Münchner Stimmbezirken auch um Erststimmen beworben hatten, aber äußerst bescheidene Ergebnisse einfuhren. Dank für ihren Fleiß und Unterstützung im Wahlkampf habe sie nicht erhalten, beklagte Wittmann in einem Telefonat mit der Heimatzeitung. Sie habe sich teilweise sogar als Frau diskriminiert und bedroht gefühlt, 80 Prozent ihrer Banner seien gestohlen oder überplakatiert worden, teils sogar von Parteikollegen. Über persönliche Konsequenzen wollte sie sich gestern Abend mit Parteichef Hubert Aiwanger beraten.

Apropos bescheidene Ergebnisse: Prof. Dr. Michael Piazolo holte in München-Giesing nur 6310 Erststimmen für die Freien Wähler, 10.000 weniger als etwa Brunnhuber und Koller. Mit 7,3 Prozent lag der Kultusminister nur auf Platz vier hinter Gülseren Demirel (Grüne), Andreas Lorenz (CSU) und Florian von Brunn (SPD) und nur hauchdünn vor AfD-Mitbewerber Uli Henkel. Listenplatz zwei bescherte Piazolo aber 34.659 Zweitstimmen und damit den sicheren Wiedereinzug in den Landtag.

Dies alles verdeutlicht, wie wichtig die Zweit- aber auch die Erststimmen für die Parteien und die einzelnen Bewerber sind. Heute tagt in Traunstein der Kreiswahlausschuss, nachdem alle Unterlagen aus den Kommunen eingehend geprüft worden waren. Hier geht es beispielsweise um die Gültigkeit von Stimmzetteln: Ist auf den Zweitstimmzetteln beispielsweise kein Bewerber, sondern nur ganz oben eine Partei angekreuzt, ist die Stimme nicht ungültig. Sie wird aber lediglich der Partei zugeschlagen und zählt damit für die Sitzvergabe, nicht aber einem einzelnen Bewerber und ist damit für die Listenmandats-Vergabe nicht von Belang. Genauso wird übrigens verfahren, wenn jemand zwei oder mehrere Kandidaten einer Partei ankreuzt.

Das Direktmandat im Stimmkreis Traunstein hatte Neuling Konrad Baur für die CSU geholt und tritt die Nachfolge von Klaus Steiner an.