Vilshofen
Die Zukunft der Pflege treibt alle um: Dialog mit Experten machte Defizite deutlich

16.03.2023 | Stand 16.03.2023, 17:10 Uhr

Pflege früher und Pflege heute – dazwischen liegen Welten. Das stellten Bürgermeister Florian Gams (v.l.), Moderatorin Erika Schwitulla, Max Lechner, Annette Eggerstorfer und Johannes Just beim Dialogforum übereinstimmend fest. −Fotos: Hirtler-Rieger

Ist die Pflege noch zu retten? Mit dieser provokativen Fragestellung hat der AWO-Kreisverband zu einer Dialogveranstaltung im Raum über der Bürg eingeladen. Das Thema, das alle umtreibt, lockte etliche Interessierte, die sich auch an der Diskussion beteiligten.

Zunächst richtete Erika Schwitulla, Moderatorin und Stadträtin, das Wort an Johannes Just, Einrichtungsleiter des AWO-Seniorenheims, an seinen Vorgänger Max Lechner sowie an Annette Eggerstorfer. Die langjährige erfahrene Pflegekraft, die heute den Caritas-Hospizkreis „Hoffnungsfenster“ leitet, sorgte mit ihren Einblicken in die ambulante Pflege für Betroffenheit im Publikum.

Der Fokus auf einen liebevollen Umgang mit Pflegebedürftigen habe sich seit den 1990er Jahren durch neue Vorgaben von oben verändert: „Fortan wurden Leistungen verkauft, Patienten wurden zu Kunden“, sagte sie. Sie warf einen sorgenvollen Blick auf die von Zeitnot gestressten Mitarbeiterinnen in der ambulanten Pflege. Leistungen scannen, Kilometer notieren, Personalcode und Patientencode eingeben, einchecken, auschecken: „Es ist ein Wahnsinn, wie viel Zeit da draufgeht.“

Eggerstorfer mahnte einen würdevollen Umgang mit Alten, Schwerstkranken und Sterbenden an, der schon beim Wortschatz beginnt: Füttern oder Windeln wechseln sollte vermieden werden. „Wir reden von Nahrung verabreichen und Umgang mit Inkontinenz“, empfahl sie.

Johannes Just mahnte davor, den Beruf des Pflegers, der Pflegerin nur mit Problemen behaftet zu sehen: „Ja, natürlich sitze ich oft über Excel-Tabellen. Und diese Zeit fehlt mir, um mit Bewohnern und Kollegen zu reden.“ Doch das AWO-Seniorenheim sei eben auch mit über 150 Mitarbeiterinnen ein mittelständisches Wirtschaftsunternehmen, dem er Rechnung tragen müsse: „Und gerade in der Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig Alten- und Krankenpfleger wirklich sind.“

Sehr lebendig schilderte der ehemalige Einrichtungsleiter, Stadt- und Kreisrat Max Lechner, wie er den Umbruch damals wahrgenommen hatte. Das Schwätzchen mit den Bewohnern, die er alle mit Namen kannte, das Gespräch beim Verteilen der Post an die Kollegen – dafür war plötzlich keine Zeit mehr: „Wer schreibt – und damit dokumentiert – der bleibt“, wurde ihm knallhart gesagt.

Personalprobleme gab es auch in den 1980er und 1990er Jahren, so Lechner, aber das blieb überschaubar, da damals auch Hauptschüler in der Pflege ausgebildet werden durften und dies mit Freude nutzten. „Die Hürde zu errichten, dass für diesen Beruf plötzlich die Mittlere Reife erforderlich ist, war richtiger Humbug!“, ereiferte er sich. Es ging ab sofort nicht mehr um Freude im Beruf, sondern nur noch um Leistung.

Als katastrophal empfand Eggerstorfer die Personalsituation im ambulanten Bereich, während Johannes Just feststellte, dass momentan alle Stellen bei ihm im Haus besetzt seien. Doch Bedarf gebe es immer, sagte er. Es sei wichtig, mit Hilfe von Social Media und gemeinsamen Kampagnen mit anderen Anbietern für die schönen Seiten des Berufs zu werben: „Früher sah man sich als Konkurrenz, heute planen wir Aktionen auf Landkreisebene.“

Auf die Frage, ob das Freiwillige Soziale Jahr wieder eingeführt werden sollte, antwortete er differenziert: „Man kann auch freiwillige Dienste anbieten, ohne dass es Pflicht wird.“ Freiwillige Helfer seien immer gefragt, dennoch dürfe man das nicht mit dem Personalmangel bei ausgebildeten Pflegekräften vermischen. Im Übrigen sei die Bezahlung von Freiwilligen ein Witz: „Da sollte der Staat mehr Geld in die Hand nehmen.“ Der spontane Applaus aus dem Publikum gab ihm Recht.

Könnte ein Freiwilliges Soziales Jahr nicht auch für Senioren nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben verpflichtend werden, fragte die Moderatorin noch einmal nach. Diese seien ohnehin oft genug in die Pflege von Angehörigen zuhause eingebunden, stellte ein Besucher fest.

Wie geht es also weiter mit der Pflege? Einig waren sich alle, dass dies eine große Herausforderung für die Zukunft wird. Johannes Just plädierte für Offenheit in dieser Frage - bei der Zuwanderung, aber auch in Sachen neuer Technologien. Einen Pflegeroboter kann und will er sich nicht vorstellen, „aber es gibt sicherlich Abläufe, die man technologisch gut unterstützen kann“.