Zum 100. Geburtstag
Spital Hengersberg würdigt das Lebenswerk des Schönberger Künstlers Gerhard Michel

22.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:38 Uhr
Alexandra von Poschinger

Indem Gerhard Michel die Farben des Meeres separiert und nebeneinanderlegt, verschmelzen sie in der Gegenüberstellung, als wären sie dauernd in Bewegung. −Foto: Alexandra von Poschinger

Als Sehnsuchtslandschaften, aber auch als Projektionsflächen für Hoffnungen und Ängste sind Wald und Meer nicht erst seit der Romantik Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen. Sie regen seit jeher die Fantasie an, symbolisieren Abschied und Aufbruch, Naturgewalt und Harmonie gleichermaßen. In seinem umfassenden Oeuvre von nahezu 10000 Bildern und Skizzen hat der Schönberger Maler Gerhard Michel Wäldern und Meeren einen Spitzenplatz reserviert. Sie trugen ihn durch sein hundertjähriges Leben. 44 Wald- und Meerbilder Michels stellt derzeit das Spital Hengersberg (Landkreis Deggendorf) aus. Die kleine Würdigung eines großen Lebenswerks.

Gerhard Michel bildet den Wald nicht nur ab oder imitiert ihn. Durch oft überraschende Perspektiven prägt er ein neues Waldbild. Fordert auf, genau hinzusehen und fügt dem Wald so eine neue Dimension hinzu, die erst im Auge des Betrachters einen endgültigen Sinn enthält. In seinen Meerbildern dagegen klammert Michel scheinbar aus, was er über sein eigenes Leben visualisiert: den Kriegsdienst als Marinesoldat in norwegischen Gewässern mit gefährlichen Fahrten auf hoher See. Der Hundertjährige ist ein Meister des schwankenden Lichts. Indem er die Farben des Meeres separiert und nebeneinanderlegt, verschmelzen sie in der Gegenüberstellung, als wären sie dauernd in Bewegung.

Man mag glauben, Michels Kunst sei wirklichkeitsgetreuer Realismus. Er malt präzise, wenn er denn will. Hier fünf Nadeln an der Fichte, dort die winzigste Schaumkrone auf der Weite des Weltmeers. An Kriegsschiffen macht er Details anschaulich, indem er sie „Im Flottenstützpunkt“ bedrohlich paradieren lässt – und doch ist Michel vor allem Konstrukteur seiner eigenen Fantasie. Dann wieder makroskopiert er, um den Blick fürs große Ganze zu haben.

Die Natur wird zum Spiegel subjektiver Befindlichkeit. Wald und Meer sind Gerhard Michel Inbegriffe des Wilden, sowohl in seiner angsteinflößenden als auch in seiner befreienden Komponente. Er kennt das ästhetische Potenzial seiner jahrzehntelangen Arbeit genau. Gerhard Michels Kunst hat etwas Partizipatives. Sie lädt ein, in die Bilder zu treten und sich selbst etwas auszumalen. Gibt dem Unausgesprochenen Raum und befeuert damit jene Imagination, die nicht in den Motiven, dafür aber in den Köpfen der Betrachter steckt. Und sie sperrt für einen wohltuenden Moment den Wahnsinn der Welt aus.

Michels Arbeiten sind ein leidenschaftliches Manifest für die Kunst und ihre einnehmende Kraft der Inspiration. Die Sonderschau in Hengersberg lässt erleben, wie der Künstler von seinem ansteckenden Enthusiasmus und der Fähigkeit zu staunen immer weiter vorangetrieben wird. Seit Jahrzehnten im Blickpunkt der Öffentlichkeit, bleibt Gerhard Michel von Moden oder gar Tagesaktualitäten völlig unbeeindruckt. Stattdessen ist er ganz eingenommen von den Themen, die ihn faszinieren, seit er 1928, als Fünfjähriger, zum ersten Mal in den Malkasten griff: Licht, Farbe, Raum, Wahrnehmung, Wasser und Bäume. Er hat uns viel zu lehren. Nicht nur über das Sehen, sondern vor allem über das Leben.

Alexandra von Poschinger


• Bis 30. April, Spital Hengersberg, Passauer Straße 38, geöffnet samstags, sonn- und feiertags 14 bis 17 Uhr
• Eine Sonderschau mit Bildern von Michel zeigt das „Fressende Haus“ in Regen ab 12. Mai
• Zum 100. Geburtstag des Künstlers ist im Freyunger Lichtland Verlag das Buch „Kraft und Wandel in den Schachten“ erschienen