Bad Reichenhall
„Keiner hat das Recht, Leben zu zerstören“

Ukrainisches Profitänzerpaar findet Zuflucht bei Ballettschul-Inhaberin Beate Stibig-Nikkanen

24.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:40 Uhr
Brigitte Janoschka

Sind nun in Sicherheit: Viktoria Tkach und Sergij Kachura mit ihren Söhnen Matvii (Mitte) und Mykyta. −Foto: Brigitte Janoschka

Von Brigitte Janoschka

Im Keller hatte es nur zwölf Grad Celsius und der mehrmalige nächtliche Aufenthalt dort wegen des Luftalarms war beängstigend. Vor wenigen Tagen zeigte sie in der Benefiz-Galavorstellung der Ballettschule mit ihrem Ehemann und Tanzpartner Sergij Kachura große Ballettkunst auf der Bühne des Kurgastzentrums. Die Heimatzeitung hat sich mit der Profitänzerin unterhalten.

Viktoria Tkach wollte nicht nur dasitzen und warten

Acht Monate zuvor, am 24. Februar, war sie nach ihrer Alltagsroutine als Mutter und Hausfrau dabei, nachts Kostüme für eine neue Vorstellung an der Oper vorzubereiten. Um 3 Uhr kam über das Telefon die Nachricht, dass der Krieg begonnen habe. Panik, Angst, Aggression – alle Abstufungen der Angst nagten in ihnen. Aber sie wollte nicht nur dasitzen und warten. Ihr Mann hat aufgeschrieben, was die Menschen brauchten, denn manche hatten für die Flucht nicht einmal eine Zahnbürste mitgenommen.

Im Keller ihres Hauses waren alle beisammen, sogar ihre Haustiere. „Wir waren immer müde, weil wir nicht schlafen konnten“, erinnert sich Viktoria. Dann wieder schliefen sie hinter zwei schützenden Wänden im Eingangsbereich ihrer Wohnung auf dem Boden und hörten die Raketen über ihren Köpfen. Die Familie wagte kaum zu atmen – da entschied sie zu fliehen.

Schulbücher mitgenommen in der Hoffnung auf Online-Unterricht

Ein Freund, der Musiker und Komponist Matthias Kendlinger, der musikalische Beziehungen zur Stadt Lviv unterhält, stellte ihnen ein leeres Appartement in Deutschland zur Verfügung. Spielsachen hatte sie für den jüngeren und Schulbücher für den älteren Sohn mitgenommen in der Hoffnung, er könnte online am Unterricht teilnehmen. Außerdem ihre Spitzenschuhe und die Hündin.

Matthias Kendlinger und seine Frau Larissa kannten Beate Stibig-Nikkanen und ihre Ballettschulen in der alten Saline in Bad Reichenhall und in St. Johann in Tirol und stellten die Verbindung her. Als Viktoria Tkach nach ihrer geglückten Flucht eines Abends in St. Johann in Tirol auf dem Balkon saß, dachte sie: „Wie lange habe ich nicht mehr in den Himmel geschaut?“

Immer sei da die Angst vor Raketen, erzählt sie. Doch von da an wusste sie: Nun war sie glücklicherweise in Sicherheit. Sie habe an die vielen Ukrainer gedacht, die durch den Krieg in Gefahr waren und etwas für ihr Land tun wollen. Mit der Hilfe vieler freundlicher Menschen plante sie schließlich Benefiz-Galas. Von der Bühne aus wollte sie mit ihrer Kunst zu den Menschen der Welt sprechen.

Beim Tanz denkt sie über die Menschlichkeit nach

Auf die Choreographie von Carsten Lumière Sasse zu der Rede von Charlie Chaplin („Als ich mich selbst zu lieben begann“) habe sie zum Beispiel getanzt. Im Tanz denke sie nach über die Natur, die Menschlichkeit, das Leben – „über das Geschenk, das wir von Gott bekommen haben“, sagte Viktoria Tkach.

Auf die Frage nach ihren Kindern erzählt sie, dass sie nach Hause wollen, zu den Freunden in der Schule und im Kindergarten, zu den Großeltern, vor allem der zehnjährige Sohn. Dem Vierjährigen falle es irgendwie leichter, Deutsch zu lernen. Die Großeltern wohnen nun in ihrer Wohnung in Lviv, sie seien Invaliden und können sich nur schwer bewegen. Der Bruder ihres Ehemanns ist auch Tänzer, aber jetzt müsse er im Krieg kämpfen.

Freundliche Worte von Menschen aus verschiedenen Ländern

Trost fand Viktoria Tkach auf ihrer Flucht durch freundliche Worte fremder Leute aus verschiedenen Ländern. „Alles wird gut“, sagte eine Frau, und das habe wirklich gut getan. „Ich habe gemerkt, dass wir alle miteinander verbunden sind, auch wenn wir nicht in der Ukraine sind. Und wir müssen eine Lektion lernen, indem wir verstehen, was da vor sich geht. Wir sollten nicht nur über materielle Dinge nachdenken“, ist die Balletttänzerin überzeugt.

Die Eltern des Dirigenten an der Oper in Lviv seien erschossen worden, während sie in ihrem Wohnzimmer saßen. „Das ist schrecklich. Es ist ein Problem der Erziehung und der Kultur. Die Bühne ist unsere Waffe und damit kämpfen wir für die schönen Dinge“, sagt Viktoria. Und: „Die Kinder sollen die Schönheit der Natur anschauen und nicht sehen müssen, wie Leben zerstört wird. Niemand hat das Recht, Leben zu zerstören.“

Viktoria Tkach und Sergij Kachura zeigten schon in mehreren Vorstellungen in Tirol und in Bad Reichenhall (wir berichteten) das Schöne in der Tanzkunst und zauberten in diesen besonderen Augenblicken Glück und Zufriedenheit in die Herzen der Zuschauer. Die Erlöse aus diesen Projekten kommen Kriegswaisen in der Ukraine zugute.