Ohne Führerschein
Vorfahrt genommen: Keine Einsicht nach schwerem Unfall

10.03.2024 | Stand 10.03.2024, 13:32 Uhr

Im Gerichtssaal und dann davor stritten der Angeklagte und das Opfer. − Foto: Archiv

Mit dem folgenschweren Zusammenstoß eines Motorrades mit einem Motorroller im Juni 2023 bei Unterneukirchen hat sich das Amtsgericht Altötting in einer nicht alltäglichen Verhandlung befasst. Dem Angeklagten wurde fahrlässige Körperverletzung und Fahren ohne Fahrerlaubnis vorgeworfen. Wie immer fragte Amtsgerichtsdirektor Günther Hammerdinger, ob sich der Angeklagte zur Sache äußere oder ob sein Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Simon Waxenberger, sprechen solle. „Was soll ich mit diesem Rechtsanwalt“, entgegnete der Gefragte, „den habe ich noch nie gesehen und noch kein Wort mit ihm gewechselt.“

Also erläuterte er den Unfall und die Ursachen selbst. Er sei zwei Tage mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, weil ihm sein Chef wegen der üblen Nachrede einer Frau fristlos gekündigt habe. Dann habe er entspannen wollen und sich auf seinen Roller gesetzt, der angemeldet in seinem Keller stand, obwohl er keinen Führerschein besaß. Das Landratsamt hatte dem Mann 2018 „eine Fahrerlaubnis unanfechtbar versagt“.

Er habe den Motorradfahrer nicht gesehen, als er in die bevorrechtigte Bundesstraße 299 einbog. Der Biker, mit dem er kollidierte, sei wohl „mit 180 Kilometer pro Stunde“ gefahren, sonst hätte er ihn wahrnehmen müssen. Die beiden Helme hätten sich berührt, bevor der Biker schwerverletzt und ohne Bewusstsein auf dem Boden aufschlug. Er selbst habe am Bein operiert werden müssen, auch der Arm sei gebrochen gewesen. „Ich bin psychisch vorbelastet“, rundete der Angeklagte seinen Vortrag ab, nachdem es im Sitzungssaal mehrmals zu verbalen Attacken zwischen ihm und dem Motorradfahrer, der als Zeuge geladen war, gekommen war.

Er sei immer noch arbeitsunfähig und die rechte Hand sei nicht mehr einsetzbar, beschrieb der verunglückte Biker seinen gegenwärtigen Zustand. Mehrere Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte seien notwendig gewesen, um ihn einigermaßen zu stabilisieren. Er sei als Schichtarbeiter damals gegen 13 Uhr auf dem Weg zur Arbeit gewesen und habe sich in der Bäckerei noch eine Brotzeit kaufen wollen. Deswegen habe er bis jetzt Probleme, weil sich die Berufsgenossenschaft und die Versicherung des Roller-Fahrers nicht einig über die Kostenübernahme seien.

Den Unfallverursacher habe er nur außerhalb seines Gesichtsfeldes wahrgenommen, bevor es krachte. Da er die Strecke wie seine Westentasche kenne, sei er mit seinem nagelneuen Motorrad nicht schneller als 80 Stundenkilometer gefahren. Der Zeuge ergänzte, das Gras am Fahrbahnrand sei damals etwa einen Meter hoch gewesen. Auch das könne dazu beigetragen haben, dass sich die Zweiradfahrer viel zu spät sahen. Ein „normales“ Tempo bestätigte auch der Beifahrer des Autos, das hinter dem Biker fuhr, als Zeuge. Auch er habe den Rollerfahrer vor dem Unfall nicht gesehen. Nach dem Knall sei das Motorrad noch etwa 50 bis 100 Meter weitergefahren, bevor der Fahrer auf die Erde geflogen sei.

Nicht minder schwer wog die zweite Anklage gegen den 35-Jährigen, der in Kasachstan geboren und deutscher Staatsangehöriger ist. Sowohl am 10. als auch am 20. November wurde der Mann von der Tochter des verunglückten Bikers zweifelsfrei erkannt, als er hinter dem Steuer eines Twingos saß und ihr zwischen Wald an der Alz und Feichten begegnete.

Bei den fünf Einträgen im Bundeszentralregister handelte es sich früher um Sachbeschädigungen und Hausfriedensbruch, seit 2019 hauptsächlich um Fahren ohne Fahrerlaubnis und um Beleidigungen. Eine achtmonatige Freiheitsstrafe wurde auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen.

Für Staatsanwältin Stephanie Windhorst sprechen diese Eintragungen Bände. Hätte sich der Unglücksfahrer in die Kreuzung hineingetastet, wäre es nicht zu diesem folgenschweren Unfall gekommen. Für die wiederholten Fahrten ohne Fahrerlaubnis und die fahrlässige Körperverletzung beantragte sie eine Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Eine Geldstrafe für den ersten Fall erschien Verteidiger Waxenberger als ausreichend. Er gehe von einer weit höheren Geschwindigkeit des Bikers aus, Bremsspuren seien nicht festgestellt worden. Für die zweite Anklage forderte er Freispruch, weil er der Zeugin kein Wort glaube. Der Angeklagte entschuldigte sich „aus tiefstem Herzen“.

Amtsgerichtsdirektor Hammerdinger verurteilte ihn wegen fahrlässiger Körperverletzung durch die Vorfahrtspflichtverletzung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten. Nach der Ankündigung, gegen das Urteil Berufung einzulegen, äußerte der Verurteilte vor dem Gerichtssaal seinen Unmut über die fehlende Fahrerlaubnis. Er habe beim Landratsamt bereits dreimal vergeblich gebeten, ihn eine MPU machen zu lassen, um wieder zu einem Führerschein zu kommen. „Gäbe man mir den Führerschein, könnte ich arbeiten und Steuern zahlen und müsste nicht – wie jetzt – Bürgergeld beziehen oder im Knast viel Geld kosten. Bitte schreiben Sie das in die Zeitung.“

Der aufgebrachte Mann verabschiedete sich beim Einlasspersonal des Amtsgerichts mit deftigen Beleidigungen in russischer Sprache. Danach lieferte er sich auf dem Parkplatz mit dem Unfallgegner eine hitzige Debatte samt Beleidigungen und Bedrohungen, die in wechselseitigen Anzeigen bei der Polizei endeten.

− ta