Junge Künstler in Altötting
Ausstellung "Taboo": Darüber spricht man nicht?

18.10.2022 | Stand 19.09.2023, 4:56 Uhr

Ihren "Dyonisos" hat Maria Braune aus Migma, einem selbst entwickelten Werkstoff geformt. Beigefügt sind aber auch Sperma und Zervixschleim. −Fotos: Schweighofer

Der schwere Duft von Weihrauch liegt über dem Altöttinger Kapellplatz, mächtig durchdringt der Klang der Kirchenglocken das gedämpfte Gemurmel und die Fahrzeuggeräusche. Die ritualisierten Insignien einer altehrwürdigen Institution. Wenige Meter weiter liegt die Stadtgalerie – und wirbt für eine Ausstellung, die genau das Gegenteil verspricht. "Taboo – Junge Kunst ungezähmt" steht da in großen Lettern.

Schon seit jeher gehört es zum Selbstverständnis von Kunst, eben jene Tabus zu brechen, Grenzen zu überschreiten, gerne auch mal für Empörung zu sorgen. Für welche Aufruhr in den 50er Jahren beispielsweise der "laszive" Hüftschwung eines Elvis Presley sorgte – ein "sexueller Affront". Heute lächelt man amüsiert ob so viel Verklemmtheit. Was aber unweigerlich zu der Frage führt: Was sind die Tabus unserer Zeit? Was "tut man nicht"? Worüber redet man besser nicht? Noch immer.

Eine Ästhetik wie aus einem Horrorfilm

Dass fünf junge Künstlerinnen und Künstler – alle aus Bayern und der Region – in der Altöttinger Stadtgalerie den Platz bekommen, ihre künstlerischen Gedanken zu dieser komplexen Frage zu präsentieren, ist ein Wert an sich.

Kühle Gänge im Neonlicht, verschwommene Gesichter, ein schwarzes Auto auf einem verlassene Hof, leuchtend weiße Zähne im Dunkeln, blutig rote Handflächen – eine ganze Wand nehmen die kleinformatigen Bilder von Franziska Krumbachner ein. Die Ästhetik wirkt wie aus einem Horrorfilm – "Blair Witch Project" in der oberbayerischen Provinz. Die Werke der jungen Altöttingerin (Jahrgang 2002) erscheinen wie ein Abstieg in die dunklen Ecken der Psyche, da wo man als Außenstehender lieber nicht so genau hinsehen will. Ins Gästebuch schreibt ein Besucher, wie sehr ihn die Bilder berührt hätten: "Sie erinnern mich an meine Depression und Traumerfahrungen." Burn-out, Überforderung, tiefsitzende Ängste, das beschämende Gefühl, in dieser Turbogesellschaft nicht mehr zu funktionieren – es ist auffällig, welchen Raum das Thema mentale Gesundheit bei den jungen Künstlern einnimmt.

Viktoria Kuch etwa zeigt ein altes Foto von einem Schulhof – eine fröhliche Szenerie, eigentlich. In die Hula-Hoop-Reifen hat die ebenfalls noch sehr junge Künstlerin (Jahrgang 2001) aus Wasserburg am Inn Adjektive gestrickt – "depressed", "shy", "anxious"... Die Reifen wirken so plötzlich nicht mehr wie ein harmloses Spielgerät, eher wie ein emotionales Gefängnis.

Bei Florian Hagen, gebürtiger Altöttinger, der heute in München lebt, fällt eine dreiteilige Serie mit dem Titel "The Company" ins Auge. Zu sehen sind zwei Anzugträger auf einer roten Mauer. Auf dem ersten Bild hängen die Köpfe der Männer auf der Höhe ihrer Knie, beim zweiten lehnen ihre Körper aneinander, die Blicke ausdruckslos, im dritten stehen sie am Rand der Mauer. Bereit zu springen? Die inneren Verwundungen werden bei Hagen plakativ auf die Leinwand transformiert. Die Geschäftsmänner etwa strahlen eine beängstigende Leere aus. "Jetzt stellt euch mal nicht so an" – diese satzgewordene Abkanzelung würde man ihnen bei diesem Anblick jedenfalls nicht ins Gesicht schleudern.

Den Mensch in seiner ganzen Nacktheit und Verletzlichkeit zeigt Florian Hagen in mehreren seiner Ölgemälde. Er geht dabei sogar wortwörtlich bis unter die Haut. Der einzige Mann in der Künstlerrunde bringt dabei auch ein Tabuthema aufs Tableau, das seine Kolleginnen ebenfalls stark beschäftigt – die (vor allem weibliche) Sexualität. "Man sollte sich als Frau nicht dafür schämen müssen, fruchtbar zu sein oder ein Sexualleben zu haben", sagt die Berlinerin Maria Braune, die heute in Oberbayern lebt. Ihre Installationen "Dionysos" schlängelt sich wie ein Skelett bis unter das Dach. Sind es etwa die Überreste des titelgebenden Gottes der Fruchtbarkeit? Beigemischt hat Braune ihrem Migma, einem selbst entwickelten Werkstoff, Sperma, Zervixschleim und Schweiß. Radikale Körperlichkeit als Tabubruch.

Keine Angst vor Körperflüssigkeiten

Die Holzbildhauerin Jessi Strixner aus München zeigt zwei Spitzenunterhöschen – das eine mit einem feuchten, das andere mit einem Menstruationsflecken. Mit perfektem Faltenwurf sieht die Unterwäsche so aus, als sei sie scheinbar zufällig so an die Wand gehängt worden – bis man realisiert, dass sie aus massivem Holz gearbeitet ist. Über Körperflüssigkeiten rede man nicht, konstatiert Strixner. "Am liebsten hätte man sie gar nicht – doch dann wäre ich nicht mehr fruchtbar."

Es ist eindrucksvoll, wie sich die fünf Künstler mit radikaler Ehrlichkeit ihren Ängsten stellen, gegen antrainierte Schamgefühle ankämpfen und so einen intimen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt dieser jungen Generation erlauben. Einer Generation, die sich, anders als ihre Vorgänger, geerbter Krisen und multipler Unsicherheiten gegenüber sieht. Und die sich angesichts dessen ihre Emotionen und Bedürfnisse sehr ungern von den Älteren lächerlich machen lässt. Und so scheint die ganze Ausstellung zu brüllen: Nehmt uns ernst, verdammt!

Dominik Schweighofer

Bis 13. November, Stadtgalerie Altötting, Papst-Benedikt-Platz, geöffnet Mi., Do. 14-17 Uhr, Fr. 18-22 Uhr, im Oktober freitags bereits ab 14 Uhr, Sa., So. 11-16 Uhr