Heimatgeschichte und Erinnerungskultur
Als der Nazi-Virus den Chiemgau infizierte: Historiker und Autor berichten in Kirchanschöring

19.04.2024 | Stand 19.04.2024, 18:10 Uhr

Historiker Friedbert Mühldorfer (von links) im Gespräch mit Autor Bernhard Straßer und Journalist Ralf Enzensberger. In diesem Bild kaum zu sehen ist rechts Gastgeber Bruno Tschoner. − Foto: Obermeier

Einen tiefen Einblick in das Leben auf dem Land und der Stadt Traunstein zu Zeiten des Nationalsozialismus hat ein Podiumsgespräch am Donnerstagabend in Kirchanschöring gegeben.

Was geschah im Chiemgau, als die Nazis die Macht übernahmen? Wer wurden hier ihre ersten Opfer und was geschah mit ihnen? Welche Rolle spielten Kirche und Schule? Und was hatte Heinrich Himmler in Fridolfing zu suchen? Rund 80 Menschen waren zur „Bahnhofsreste“ gekommen, um dem Historiker Friedbert Mühldorfer und Autor Bernhard Straßer zu lauschen, die berichteten, wie das Gift der Nazi-Ideologie in den Chiemgau und Rupertiwinkel eingesickert war und was es quasi direkt vor unserer Haustür angerichtet hat.


In einer Runde aus Ohrensesseln und Holzstühlen saßen die beiden Hauptprotagonisten mit den Gastgebern Bruno Tschoner und Ralf Enzensberger auf der Bühne. In entspannter Gesprächsatmosphäre standen sie den beiden Moderatoren – zwischendurch auch den Zuhörern – Rede und Antwort, präsentierten Bildmaterial an der Leinwand und erzählten Anekdoten aus Traunstein und Kirchanschöring.

Mühldorfer, der sich seit fast 50 Jahren für eine lückenlose Aufarbeitung der NS-Zeit, Erinnerungskultur und Antifaschismus einsetzt, beschrieb die gesellschaftliche und politische Stimmung am Ende der Weimarer Republik, bei der Machtergreifung der NSDAP und darüber hinaus. Hatten die Traunsteiner anfangs noch eher ablehnend und kopfschüttelnd auf die als Krawallmacher bekannten Nationalsozialisten mit ihren SA-Trupps aus München geschaut, manche Schläge und Störaktionen gegen Kommunisten auch gutgeheißen, änderte sich die Stimmung nach der Machtergreifung 1933 fundamental. In Windeseile erzeugten die Nazis ein Klima der Angst und Einschüchterung, erst vornehmlich bei politischen Gegnern wie der KPD, später bei so ziemlich allen, die aus der Reihe tanzten. „Halts Maul, sonst kommst nach Dachau“ war ein Spruch, der sich bald im Chiemgau und Rupertiwinkel etablieren sollte.

Eines der ersten Opfer war KDP-Stadtrat Hans Braxenthaler, der bereits am 3. März 1933 verhaftet und ins Traunsteiner Gefängnis geworfen, zweimal nach Dachau deportiert, physisch und psychisch aufs Schlimmste malträtiert und in den Selbstmord am Hochberg getrieben wurde. 1939 titelte das heimische Nazi-Blatt „Traunstein ist judenfrei“, nachdem man unter anderem die bekannte jüdische Familie Holzner oder die Jüdin Rosa Moosbauer deportiert, vertrieben oder in den Tod getrieben hatte. Neben den großen Lagern wie Dachau gab es viele Außenlager auch auf dem Land und der Umgebung. Beispielsweise das „Russen-Lager“ bei Kirchanschöring, ein Lager in Fridolfing, ein anderes in Schönram, ein sehr großes – in der Spitze 1000 Häftlinge – in Trostberg.

Gleichzeitig entfaltete auch auf dem Traunsteiner Land die NS-Propaganda langsam aber stetig ihre Wirkung: „Viele haben den Hitler hier gefeiert wie einen Popstar. Weil es hieß, der bringt uns Brot und Arbeit“, wusste Kirchanschörings Heimatpfleger Franz Huber am Rande der Veranstaltung zu berichten – und gab ein skurriles Beispiel: „Es gab hier so spinnerte Leute, die haben Steine von den Kiesstraßen aufgehoben, und mit nach Hause genommen. Warum? Weil der Hitler aufm Weg zum Obersalzberg drübergefahren war.“

Auch der ganz normale Alltag der Menschen war durchsetzt vom NS-Kult. Bernhard Straßer hat mit vielen Zeitzeugen aus und um Kirchanschöring gesprochen und vieles aufgeschrieben. Er schilderte, wie es für eine damals junge Kirchanschöringerin etwas ganz besonderes war, mit dem Bund Deutscher Mädel nach Salzburg zu reisen, um dort eine Choreografie aufzuführen. Österreichische wie deutsche Mädels bewegten sich im U aufeinander zu, und formten dann ein Hakenkreuz. Anlass war der Anschluss Österreichs.

Geschichte ist „grau mit Schattierungen“

Ein Zuhörer fragte, ob und wie stark hier die Kinder durch die Schule ideologisiert wurden und welche Rolle die Lehrkräfte gespielt haben. „Die Lehrkräfte kommen ehrlichgesagt nicht gut weg“, antwortete Mühldorfer, selbst pensionierte Lehrer. Zwar seien Schulbücher sehr schnell ausgetauscht und an die NS-Ideologie angepasst worden, der Lehrer – damals noch geistige Autorität im Dorf – war nicht selten Opportunist und „auf Linie“, so Mühldorfer. Einer von ihnen: Fritz Jochum, Kirchanschörings Schulleiter und Bürgermeister, der 1939 zum Kreisverwalter des Nationalsozialistischen Lehrerverbands ernannt wurde. „Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass Geschichte nie schwarz-weiß sondern grau mit Schattierungen ist“, meinte Bernhard Straßer. Die Zeitzeugen, mit denen er gesprochen hat, waren sich alle einig: Hingehängt habe Fritz Jochum niemanden in seiner Zeit als NSDAP-Ortsvorsitzender. Straßers eigener Großvater hatte es wohl auch Jochum zu verdanken, dass er aus der Haft entlassen wurde. Betrunken hatte er sich abfällig an der französischen Front gegenüber Hitler geäußert, und war denunziert worden.

Zwar sei er nur wenige Jahre später an der Tuberkulose gestorben, die er sich in Haft eingefangen hatte. Die wenige Zeit, die ihm blieb, nutzte er aber, „um sein gesamtes Leben umzukrempeln“. Er stellte den Rohbau fürs Eigenheim fertig, heiratete seine Liebschaft, mit der er ein uneheliches Kind hatte – und bekam weitere vier, darunter Straßers Vater. „Mir selbst hat diese Geschichte so klar vor Augen geführt, wie wenige Entscheidungen ein oder mehrere Leben, ja, ganze Generationen beeinflussen kann. Wer weiß, ob ich überhaupt hier säße, und seine Geschichte erzählen könnte, wenn nur einzelne Momente im Leben meines Großvaters anders gelaufen wären.“

− enz