Tiahuanaco − wo selbst die Inka staunten

25.11.2011 | Stand 25.11.2011, 12:22 Uhr

Es sind nur 70 Kilometer von der Andenmetropole La Paz, und doch ist es eine andere Welt. Tiahuanaco heißt der Fundort einer rätselhaften präkolumbianischen Kultur. Bekanntestes Artefakt an dieser Fundstätte ist das Sonnentor, das nach Meinung der Archäologen im Schmuckrelief einen Kalender mit jahrtausendelanger Gültigkeit birgt. Nach Meinung von Autoren wie Erich von Däniken oder Hartwig Hausdorf stellt es ein Zentrum des Kontakts mit außerirdischen Intelligenzen dar.

Wer die Ruinen und Fragmente der alten Kultur neben dem kleinen Dorf Tiahuanaco einschließlich der benachbarten Fundstelle Pumapunku mit offenen Augen besucht, bekommt den Eindruck, dass auch die gut gemeinte Rekonstruktion der Anlage in Form mehrerer Tempel vom tatsächlichen Aussehen und ursprünglichen Zweck der Bauten so weit entfernt liegt wie die Interpretation Dänikens.

Megalithe und rote, wenig bearbeitete Sandsteine sind hier mit so präzise bearbeiteten Steinen vermischt, dass sich der Eindruck aufdrängt, hier habe man in der Rekonstruktion der Fantasie recht freien Lauf gelassen. Außerdem diente das Ruinenfeld über Jahrhunderte hin bis ins 20. Jahrhundert als wohlfeiler Steinbruch. So ist zum Beispiel die stattliche Kirche des Dorfes Tiahuanaco (Bauzeit 1580 bis 1612) mit Steinen aus dem Ruinenfeld erbaut worden.

Vor allem die Weitläufigkeit der gesamten Ruinen-, eher Trümmerfelder, von denen nur etwa ein Prozent als ausgegraben gilt, verblüfft. Aber auch die Exaktheit der Steinquader und wesentlich komplexerer Strukturen wie tonnenschwerer Torbögen aus einem Stück oder Halbröhren, die wie Bauteile einer modernen Kanalisation erscheinen und scheinbar planlos in den historischen Fundstätten zerstreut liegen.

Auch sie sind in einer verblüffenden Präzision wie mit Laser aus härtestem Gestein geschnitten und von einem rund 300 Kilometer weit entfernten Steinbruch antransportiert – von einer Kultur, der man nicht mal den Gebrauch des Rades zuerkennt und bestenfalls Werkzeuge aus Stein und Bronze.

Sonnentor ist aus einem Steinblock gearbeitetDie bekannteste Sehenswürdigkeit ist das "Sonnentor". Es misst rund drei Meter in der Höhe und 3,75 Meter in der Breite und ist aus einem einzigen Andesitblock herausgearbeitet. Nach dem Untergang der Kultur ist es umgestürzt und in zwei Teile zerbrochen. Erst 1908 wurde es wieder aufgestellt. Sein Gewicht wird auf sieben bis zwölf Tonnen geschätzt. Etwas kleiner und etwas abseits vom "Sonnentor" findet sich im Ruinenfeld das "Mondtor" und im daneben stehenden Museum das "Sternentor".

Durch die Altersbestimmung von ausgegrabenen Keramikgegenständen lassen sich in Tiahuanaco laut Ausstellung im integrierten Museum unterschiedliche Phasen erkennen, von 100 vor bis rund 1000 nach Christus. Die gesamte Kultur hatte nach gängiger Meinung der Wissenschaft von 1500 vor bis etwa 1200 nach Christus Bestand, bevor sie in der nachfolgenden Kultur der Inka aufging.

Dennoch, zur Entstehungszeit der Anlagen in Tiahuanaco und im unmittelbar benachbarten Pumapunku tappt die Wissenschaft noch immer im Dunklen. Man weiß nur, dass die Anlage, die nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet ist, zu ihrer Entstehungszeit am Titicaca-See gelegen hatte.

Die Ufer des Sees sind seit der Bauzeit um rund 30 Kilometer zurückgewichen. Wo die Anlagen nicht nach dem Gefühl der Archäologen rekonstruiert sind, liegen manche zig Tonnen schwere Bauteile wie von Geisterhand verwirbelt im Gelände, zum Teil bedeckt mit Erde, zum Teil frei in der Sonne, zum Teil wirr, wie die Teile eines geheimnisvollen Baukastens für Riesen. Wobei offen bleibt, wie das fertige Bauwerk hätte aussehen sollen oder ausgesehen hat.

Und was die Geschichte noch rätselhafter macht, als sie aufgrund der unbekannten Technologie der Steinbearbeitung ist: Die unterste und älteste der fünf bisher aus-gegrabenen Kulturschichten an diesem Ort enthält Knochen des Taxodons, eines ausgestorbenen Säugetiers in der Größe eines Nashorns, das nach Meinung der Wissenschaft seit rund 14 000 Jahren aus der südamerikanischen Tierwelt verschwunden ist.

Ebenfalls rätselhaft und doch teilweise erforscht sind jedoch die Kreuzsymbole, die sich an vielen Steinen finden. Sie gelten als Darstellung des Sternbildes des "Kreuz des Südens". In einer Weiterentwicklung handelt es sich um ein Kreuz mit einem integrierten Quadrat, das sogenannte Chakana oder Andenkreuz, das sich ebenfalls in den Kulturen des Hochlandes seit vorchristlicher Zeit findet.

Nach Meinung der Wissenschaft verkörpert es zum einen das Sternbild "Kreuz des Südens", dessen Konstellation am Firmament nicht nur zur Bestimmung eines wichtigen Aussaattermins in der Landwirtschaft benutzt wird, sondern steht auch für das kosmologische Bild der alten Kulturen von einer Einheit von Zeit und Raum sowie für die drei Welten in der Vorstellung der Indios – der Unterwelt, der Welt der lebenden Menschen und der Welt der Götter. Auch die Maßzahl "Wurzel aus 2" ist nach Meinung mancher Autoren ebenso enthalten, wie ein guter Näherungswert an die Kreismesszahl Pi, die mit 3,16 mit Hilfe des Andenkreuzes ermittelt werden kann.

INFO Buchtipp: Informationen zur Technologie der Inka, zu den Rätseln um Tiahuanaco und die Bedeutung des Andenkreuzes finden sich in dem Buch "La Ciencia y Tecnologia Incaica" von Maxima Grillo Annunziata.

 Reiseführer: Als nützliches Handbuch, um Südamerika auf eigene Faust zu entdecken, erwies sich "Südamerika für wenig Geld", erschienen bei Lonely Planet. Details im Internet unter www.lonelyplanet.com.

 Museum: Einen kleinen Vorgeschmack auf den Reichtum und die Rätsel der Ruinen gibt das Museum zur Tiahuanaco-Kultur im Zentrum von La Paz.

PNP-Redakteur Ernst Deubelli erkundete die Ruinen von Tiahuanaco und Pumapunku in Bolivien auf eigene Faust.