„Erbärmliches Schauspiel“
Boris Johnson kämpft um politisches Überleben: Zeitung spricht von „Meuterei“

07.07.2022 | Stand 07.07.2022, 11:46 Uhr

Bei einer Fragestunde im britischen Unterhaus betonte der angeschlagene Premierminister Boris Johnson, dass ein Rücktritt für ihn nicht in Frage kommt. −Foto: Jessica Taylor/dpa

Der immer mehr isolierte britische Premierminister Boris Johnson kämpft um sein politisches Überleben. Er entließ am Mittwochabend seinen Wohnungsbauminister Michael Gove, der ihn Medienberichten zufolge ebenfalls zum Rücktritt aufgefordert hatte.



Der durch zahlreiche Skandale und dutzende Rücktritte von Regierungsvertretern geschwächte Premier lehnt weiter einen Amtsverzicht ab. „Er hat Michael Gove gefeuert“, sagte James Duddridge, ein enger Mitarbeiter Johnsons, dem Sender Sky News. „Der Premierminister ist in bester Laune und wird weiter kämpfen.“

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Johnson ist derzeit mit der größten Krise seiner dreijährigen Amtszeit konfrontiert. Die Rücktritte von Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid am Dienstagabend aus Protest gegen den skandalumwitterten Regierungschef haben rund 40 weitere Rücktritte aus den eigenen Reihen nach sich gezogen. Zuletzt trat am Mittwochabend der für Wales zuständige Minister Simon Hart zurück. Der „Daily Telegraph“ sprach gar von einer „Meuterei“ gegen den Premier.

Kabinettsmitglieder drängen Johnson zum Rücktritt

Bei einem Krisentreffen in der Downing Street am Abend versuchten führende Kabinettsmitglieder Medienberichten zufolge, Johnson gemeinsam zum Rücktritt drängen - darunter offenbar auch Innenministerin Priti Patel und der erst seit 24 Stunden amtierende neue Finanzminister Nadhim Zahawi. Die Johnson-Verbündeten Jacob Rees-Mogg und Nadine Dorries bekundeten hingegen ihre Unterstützung für den Premier.

„Düstere Stimmung in Downing Street No 10, Insider berichtet von “vielen Tränen im Gebäude“, schrieb der Politikredakteur Pippa Crerar vom „Daily Mirror“ auf Twitter.

Johnson will im Amt bleiben

Doch der 58-jährige Johnson ließ sich nicht umstimmen: Er wolle im Amt bleiben und sich auf „die äußerst wichtigen Themen“ konzentrieren, mit denen Großbritannien konfrontiert sei, berichteten mehrere Medien anschließend. Ein Rücktritt werde „Chaos“ verursachen und den Konservativen „fast sicher“ eine Niederlage bei der nächsten Wahl beschweren, argumentierte Johnson laut „Daily Mail“.

Auch während der wöchentlichen Fragerunde im Unterhaus und vor einem Parlamentsausschuss bekräftigte Johnson, er werde im Amt bleiben. „Wir brauchen eine stabile Regierung, müssen uns als Konservative gegenseitig lieben, mit unseren Prioritäten vorankommen“, sagte er.

Rücktritte der Minister direkt nach Johnson-Ansprache

Oppositionsführer Keir Starmer warf dem Premierminister vor, er liefere ein „erbärmliches Schauspiel“ ab. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, forderte eine Neuwahl.

Die Rücktritte der Minister Sunak und Javid waren wenige Minuten nach einer Stellungnahme Johnsons erfolgt, in der dieser sich dafür entschuldigte hatte, einen unter dem Verdacht der sexuellen Belästigung stehenden Tory-Politiker zum stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer gemacht zu haben. Chris Pincher war Ende vergangener Woche von diesem Posten zurückgetreten, nachdem er zwei Männer sexuell belästigt hatte.

Spendenaffäre und Skandale belasten Johnson

Dabei wurde bekannt, dass Johnson bereits 2019 über Vorwürfe gegen Pincher informiert worden war. Der Premier hatte dies zunächst dementieren lassen, es dann aber doch einräumen müssen und versichert, er habe diese Tatsache „vergessen“.

Johnsons Regierung und seine konservative Regierungspartei wurden in der Vergangenheit von einer ganzen Reihe von Affären erschüttert. Neben einer Spendenaffäre und Skandalen um übergriffige Parteikollegen wog besonders schwer der Skandal um Partys am Regierungssitz während des Corona-Lockdowns.

Anfang Juni überstand Johnson nur knapp ein parteiinternes Misstrauensvotum. Ein einflussreicher Ausschuss namens „1922 Committee“ aus Tory-Abgeordneten ohne Ministerrang könnte diese Regelung Berichten zufolge nächst Woche ändern und den Weg für ein zweites Misstrauensvotum frei machen.

− afp/jed