Sandra Hüller preisverdächtig
Scorsese, Ne Niro, DiCaprio vereint am roten Teppich von Cannes

21.05.2023 | Stand 16.09.2023, 21:49 Uhr
Doris Groß

Vereint auf dem roten Teppich: Robert De Niro (von links), Leonardo DiCaprio und Regisseur Martin Scorsese. −Foto: Scott Garfitt/Invision/dpa

Es war ein ganz besonderes Gipfeltreffen auf dem roten Teppich in Cannes. Da stand Regielegende Martin Scorsese neben den zwei Männern, die sein außergewöhnliches Schaffen über die Jahrzehnte verkörpern: Robert De Niro auf der einen Seite, der mit Scorseses erster Karriere-Hälfte und Filmen wie „Taxi Driver“ verbunden ist. Seit 2002 mit „Gangs of New York“ und über sieben Zusammenarbeiten wiederum hat Leonardo DiCaprio eine fruchtbare Beziehung mit Scorsese entwickelt. Jetzt hat der Regisseur die beiden zum ersten Mal zusammen vor die Kamera geholt: für „Killers of the Flower Moon“, seinem ersten Western, der zugleich Romanze und True-Crime-Drama ist, für das man mit dreieinhalb Stunden einiges an Sitzfleisch braucht.

Die Geschichte führt ins Oklahoma der 1920er Jahre. Der Osage-Stamm dort ist sehr reich geworden, nachdem Öl auf dem Land des Reservats gefunden wurde – und das ruft weiße Neider auf den Plan. Einflussreichster Strippenzieher ist De Niro als King William Hale, der sich als Freund der Ureinwohner geriert, aber mehrere Stammes-Mitglieder aus dem Weg räumen lässt, um an die Ölrechte zu kommen. Dafür instrumentalisiert er auch seinen Neffen Ernest (DiCaprio), der die Osage Mollie (Lily Gladstone) heiratet.

„Killers of the Flower Moon“ wurde von Apple mitproduziert, gehört aber auf die Leinwand und zeigt noch mal die Meisterschaft des 80-jährigen Scorsese: als so opulentes wie bildstarkes Epos mit außergewöhnlichem Gitarren-Soundtrack, das bei aller Größe immer das Geflecht aus Beziehungen, Verpflichtungen und (Loyalitäts-)Konflikten im Blick behält. Aus der starken Schauspielriege sticht vor allem DiCaprio heraus als innerlich zerrissener und gutmütig naiver Handlanger mit schlechten Zähnen.

„Der systemische Rassismus ist uns erst seit dem Mord an George Floyd bewusst geworden“, sagte De Niro auf der Pressekonferenz. „Viele Dinge sind passiert, von denen wir nichts wussten.“ So wie die Morde an den Osage, auf die Scorsese mit seinem Film die Aufmerksamkeit lenkt, während er von Gier, Rücksichtslosigkeit, Rassismus und weißer Vorherrschaft in den USA erzählt.

Der heftig umjubelte Film wäre ein Anwärter auf die Goldene Palme, lief aber auf Wunsch von Apple TV nicht im Wettbewerb. Dieser bietet viel Prominenz und schwankende Qualität: Der kitschige Fehlgriff „Black Flies“ mit Sean Penn gehört ebenso dazu wie Todd Haynes Drama „May December“, das trotz Natalie Portman und Julianne Moore nicht vollends überzeugte. Ein Höhepunkt hingegen war Jonathan Glazers „Zone of Interest“ – mit Sandra Hüller in einer der Hauptrollen, die am Wochenende auch im Krimi „Anatomy of a Fall“ zu sehen war. In „Zone of Interest“ erzeugt sie auf grandiose Weise großes Unbehagen. „Rudi sagt immer, ich sei die Königin von Auschwitz“, verkündet sie darin stolz als Hedwig Höss, Frau von Rudolf Höss, Kommandant des Vernichtungslagers. Samt Kinder lebt die Familie im Kleinbürger-Idyll, hinter dessen Gartenmauern sich die Auschwitz-Verbrechen abspielen. Doch die Höss blenden das Höllische aus, ohne jede Empathie.

Der Film will nicht den Schrecken rekonstruieren. Vielmehr erzeugt „Zone of Interest“ über Details im Kopf einen Parallelfilm, der sich aus allen Bildern und allem Wissen über Auschwitz speist. Während die Kinder im Pool planschen, sind Hundegebell, Schüsse und Schreie zu hören. Im Hintergrund raucht der Schornstein. Man weiß, woher die Asche kommt, mit der die Blumen gedüngt werden. So hat man den Holocaust noch nie auf der Leinwand gesehen. Verstörend und preisverdächtig.

Sascha Rettig