Erfolgreichstes Album der Popgeschichte
Michael Jacksons „Thriller“ wird 40: Bedeutend wie die Mondlandung

Als „Thriller 40“ ist das Meisterwerk mit Bonusmaterial gerade noch einmal veröffentlicht worden

18.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:57 Uhr

14 Minuten dauert das ikonische Video zu „Thriller“. Inspirieren ließ sich Michael Jackson von dem Horrorfilm „An American Werewolf In London“, gedreht hat es „Blues Brothers“-Regisseur John Landis. −Foto: Imago Images

Herbst 1982: Helmut Kohl ist gerade zum neuen deutschen Bundeskanzler gewählt worden, das „Time“-Magazin kürt dieses neuartige Gerät namens Computer zur „Maschine des Jahres“, und überall auf der Welt flippen die Menschen vor schierer Begeisterung über ein Album aus, das ihre damalige Vorstellungskraft von Popmusik geradezu pulverisierte: „Thriller“ von Michael Jackson. Jetzt wird das meistverkaufte Album der Popgeschichte als „Thriller 40“ – mit einigem Bonusmaterial und gehörigem Tamtam – frisch aufgelegt.

Hier geht’s zum „Thriller“-Video

Ist es übertrieben zu behaupten, dass dieses neun Songs umfassende Werk für den Pop eine vergleichbare Bedeutung hatte wie die Mondlandung für die Raumfahrt? „Thriller“, veröffentlicht am 30. November 1982, setzte in jeder Hinsicht ganz neue Maßstäbe. Sicher, er war kein Unbekannter mehr, dieser Michael Jackson aus Gary/ Indiana. Soul-Wunderkind seit den Sechzigern, jüngster und erkennbar talentiertester Hüpfer bei The Jackson Five, und auch die Solokarriere ließ spätestens seit „Off The Wall“ 1979 sämtliche Merkmale einer Superstarwerdung erkennen. Doch erst sein sechstes Album „Thriller“, mit seinen Hits „Billie Jean“, „Beat It“, „Wanna Be Startin’ Somethin’“ und eben „Thriller“ selbst, schubste den scheuen Jackson – und die Popgeschichte als solche – in eine ganz neue Dimension.

Zusammen mit seinem Produzenten Quincy Jones sprengte Jackson in einer Phase, in der die Populärmusik nach Disco und Punk stilistisch ein wenig ziellos herumschlingerte, wie niemand vor ihm die Grenzen zwischen Soul, Funk. Pop und Rockmusik. Er engagierte Eddie Van Halen für dieses weltverändernde Gitarrensolo in „Beat It“, er verblüffte bei der Aufführung von „Billie Jean“ mit diesem schwerelosen Tanz namens „Moonwalk“. Und sein 14-minütiges Video zu „Thriller“ – inszeniert vom „Blues Brothers“-Regisseur John Landis, inspiriert vom Film „An American Werewolf In London“ – verhalf dem Musikvideo-Genre mitsamt des seinerzeit aufstrebenden Senders MTV zum finalen Durchbruch.

Überhaupt haben Jackson und Jones mit „Thriller“ die Musikwelt revolutioniert. Zum ersten Mal, zumindest innerhalb des Mainstream, wurden Sound und visuelle Kunst konsequent verknüpft, wurden die Barrieren zwischen vermeintlich schwarzer und vermeintlich weißer Musik umgestoßen, begannen auch die Grenzen zwischen maskulin und feminin zu verschwimmen, der genre-, alters-, kultur- und geschmacksübergreifende Konsens, den „Thriller“ schuf, war und ist bis heute unerreicht.

Der Erfolg brach alle Rekorde. Bis heute ist „Thriller“ das meistverkaufte Album mit mehr als 100 Millionen Kopien. 1983 bekam Michael Jackson acht Grammys für „Thriller“. Das Entscheidende aber: Bis zum heutigen Tag haben diese Stück, hat ein „Beat It“ (in dem es um Bandenkriminalität ging) oder ein „Billie Jean“ (einer der ersten Popsongs, der sich dem Thema des obsessiven Fantums und Stalkings widmete) nichts von ihrer Dynamik und ihrer Kraft verloren. Vierzig Jahre altes Zeug? Pah. Auf jeder x-beliebigen Party muss man nur diese vollkommen zeitlosen Klassiker auflegen, und die Leute stürmen die Tanzfläche

Die Musik ist so groß und so übermächtig, dass sie sich von der Person des Michael Jackson quasi entkoppelt hat. Als es rauskam, war der Künstler selbst 24 Jahre alt und hatte den Ruf eines allenfalls leicht verschrobenen und obskuren Perfektionisten. Das Bizarre, das Freakige, das Abstoßende, es kam erst später. Als sich Jackson im „Thriller“-Video in einen Zombie verwandelte, ahnte die Öffentlichkeit nicht, dass er Jahre später zu einem – mutmaßlichen, da nie von einem Gericht verurteilten – sexuellen Serienstraftäter und notorischem Kindesmissbrauchstäter werden würde. Erste Schönheitsoperationen hatte er 1982 schon hinter sich, aber die bizarre, entstellende Verwandlung, das Bleichen der Haut, alles Monströse war noch nicht geschehen.

Oft wird debattiert, warum Michael Jackson und seine Musik nicht „gecancelt“ wurden, warum man seine Kunst weiter genießen und ihn selbst gleichzeitig verachten kann. Bei Michael Jackson ist sie vollzogen, die Trennung zwischen Kunst und Künstler, die Mehrzahl der musikkonsumierenden Menschen hat sein Oeuvre von seiner Person gedanklich abgespalten.

Und die Faszination ebbt tatsächlich nicht ab. Auf „Thriller 40“ gibt es als kleines Zuckerl wieder etwas Unveröffentlichtes, etwa den bisher unter Verschluss gehaltenen Song „The Toy“ (der auch nicht so dolle ist) oder eine ausgearbeitete Version von „She’s Trouble“, einer Art „Smooth Criminal“ mit weniger Wumms. Auf der Deluxe-Edition finden sich zudem diverse Remixe, darunter eine „Billie Jean“-Abmischung von, ausgerechnet, Kanye West.

Michael Jackson selbst ist seit 13 Jahren tot, jämmerlich gestorben an einer Narkosemittelüberdosis nach jahrelangem körperlichem und geistigem Verfall. „Thriller“ war für den Künstler nicht nur Segen, sondern auch Fluch. Vergeblich setzte er alles daran, noch irgendwie einen draufzusetzen. „Bad“, 1987 veröffentlicht, kam nah dran, aber tatsächlich hat Michael Jackson „Thriller“ nie mehr erreicht. Danach wendete sich dieses Leben zum Tragischen, zum Schrecklichen und wohl zum Verbrecherischen. Aber die Musik, sie bleibt. Professor Hirokazu Takahashi an der Universität von Tokio fand jüngst heraus, dass sogar seine zehn Laborratten zu „Beat It“ tanzten.

Steffen Rüth