"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Vielgerühmt, wenig gelesen: Marcel Proust starb vor 100 Jahren

17.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:59 Uhr
Sabine Glaubitz

Lang und langatmig? Marcel Proust hat den gewichtigen und bedeutenden Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" geschrieben. Er starb vor 100 Jahren an einer Lungenentzündung. −Foto: dpa

Sein Umfang ist gewaltig, sein Inhalt unermesslich und seine Sätze fast schon bandwurmartig lang. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" besteht aus sieben Bänden und über 4500 Seiten. Es hat Marcel Proust weltberühmt gemacht und gilt als das monumentalste Romanwerk des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist das Opus zwischen 1906 und 1922. Es ist in unzähligen Übersetzungen erschienen und gehört zu den meist kommentierten und studierten Arbeiten überhaupt. Zu den meist gelesenen zählt das Epos nicht. Warum eigentlich?

Allein in Frankreich werden dem Leben und dem Werk des Schriftstellers, der vor 100 Jahren, am 18. November 1922, im Alter von 51 Jahren gestorben ist, an die 50 Publikationen und zahlreiche Sondersendungen im Radio und Fernsehen gewidmet. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" stellt mit seinen sieben Bänden, darunter "Unterwegs zu Swann", "Sodom und Gomorrha" und "Die wiedergefundene Zeit" im Grunde Prousts einzigen großer Roman dar, zu dem ihm seine anderen literarischen Schriften als Vorbereitung dienten.

Was ist so besonders an Proust und seinem Werk über Erinnerungen an seine Kindheit und seine Zeit, dass er weltweit Fans und Spezialisten hat, die sich Proustianer nennen? Eine knappe Antwort kommt von der amerikanischen Schriftstellerin Francine Prose: Die Suche nach der verlorenen Zeit sei nicht nur ein Buch, sondern eine ganze Welt. In dem Opus beschreibt Proust seine Kindheit und das Pariser Salonleben der Adligen und der Bourgeoisie zwischen Belle Époque und Erstem Weltkrieg, bevor er sich gesundheitlich angeschlagen in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurückzog. In dem Gesellschafts- und Epochenporträt outet sich der Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters auch als homosexuell.

Vor allem aber begibt sich Proust in seinem Roman auf die Suche nach der Erinnerung, nicht der bewussten oder willentlichen, sondern der unbewussten, scheinbar nebensächlichen. Dazu gehört die bekannte Szene, in der der Ich-Erzähler, der auch Marcel heißt, eine Madeleine – ein Sandkuchen in Form einer Jakobsmuschel – in seinen Lindenblütentee eintaucht und sich dabei plötzlich an seine Kindheit erinnert. Seitdem wird das Phänomen, dass ein Geschmacks- oder Geruchserlebnis Erinnerungen auslöst, als Madeleine-Effekt oder Proust-Effekt bezeichnet.

Am 10. Juli 1871 als Sohn eines Arztes geboren, litt Proust ab seinem neunten Lebensjahr an Asthma, weswegen er oft nicht zur Schule konnte. Seine starke Atemnot machte ihn von anderen abhängig, vor allem von seiner Mutter. Später kamen noch weitere echte oder eingebildete Krankheiten hinzu. Leiden prägten sein Werk und wurden zu seiner schöpferischen Antriebsfeder. Als sein Vater 1903 starb und zwei Jahre später seine Mutter, fiel Proust in tiefe Depressionen.

Proust hatte mehrere Besonderheiten: Er lebte hauptsächlich nachts, schlief tagsüber wenig und schrieb vor allem im Bett. Seit fünfzehn Jahren lebe er liegend, schrieb er 1919 in einem seiner unzähligen Briefe. Von schweren Asthmaanfällen heimgesucht, nahm er immer stärkere Schlafmittel und Medikamente und starb schließlich an einer Lungenentzündung.

Sabine Glaubitz