Im Stil von "Babylon Berlin"
"Glanz auf dem Vulkan" in Traunreut: Der Tod swingt mit

23.10.2022 | Stand 19.09.2023, 4:03 Uhr

Eine Melange aus Musik, Gesang, Tanz und Akrobatik: Das Berliner Ensemble um Evi Niessner (hier mit Zylinder, Pelz und Mikrofon) hat mit der Show "Glanz auf dem Vulkan" das Publikum mit auf einer Reise in die "Roaring Twenties" genommen. −Foto: Enzensberger

Glamour, Exzess, Erotik – und überall der Tod. Das Berliner Nachtleben der 1920er Jahre gilt nicht erst seit der Erfolgsserie "Babylon Berlin" als golden und düster, als Konzentrat von Sinnlichkeit und Sünde. Diese Melange wurde mit der Musik-Revue "Glanz auf dem Vulkan" auf spektakuläre Art und Weise auf die Bühne des Traunreuter Kulturtempels K1 gebracht. Vor einem rund 140-köpfigen Publikum vollzieht sich dort am Freitagabend ein wilder Ritt durch ein Jahrzehnt voller Tanz, Träume und Tragik.

"Weil ich weiß, dass ich sterben muss, kann ich so leben", haucht "Madame Glanz" alias Evi Niessner ins Mikrofon. Sie sitzt lässig auf einem Flügel, die Beine überschlagen, trägt Zylinder, Hosenanzug und einen Pelz um den Hals. Ihre operntrainierte Vier-Oktaven-Stimme erzählt nicht nur die Geschichte dreier stereotypen Frauenfiguren aus den 1920ern mit den Namen Claire (Tara D’Arson), Isadora (Lola la Tease) und Mitzi (Tatjana Zemann) – sie spricht für sie. Denn die drei Tänzerinnen (auch zu sehen in "Babylon Berlin") bleiben stumm. Umso ausdrucksvoller: Die gezeigten Bewegungen und Figuren, darin eingewoben zeitgenössische Tänze wie Charleston oder klassische Balletteinlagen.

Freilich sparen die Burlesque-erprobten Damen dabei nicht mit stilvoller Frivolität, die sich nicht zuletzt in stoffarmen Kostümen niederschlägt, welche nur noch wenig Raum für Fantasie und Interpretationen lassen.

Im Zentrum der Erzählung steht die innere Zerrissenheit der "modernen Frau". Von der Sucht nach Anerkennung, Sinnlichkeit und Vergnügen, die im hohen Tempo in Rausch und Ekstase, am Ende letztlich in bitterer Melancholie und Hoffnungslosigkeit mündet. Inszeniert und musikalisch umrahmt wird dieser Gefühls-Cocktail mit einer kleinen Band – Schlagwerk, Holz- und Blechbläser, Kontrabass – von renommierten Instrumentalisten. Unter ihnen beispielsweise die Berliner Jazz-Größe Robin Draganic. Tanzpartner des weiblichen Trios ist der "Tänzer der Nacht" (Uwe Czebulla). Der Tod swingt also mit, mit weißer Schädelmaske und stählernen Oberkörper umgarnt er, verführt er – oder lässt sich verführen.

Am Piano sitzt "Mystere Leu" – Wrack, weiß geschminktes Gesicht, die Haare unter dem Zylinder mit Pomade streng nach hinten gekämmt. Ähnlich wie Ehefrau "Madame Glanz" kann der mysteriöse Leu mit zwei Dingen aufwarten – einnehmender Bühnenpräsenz und Stimmgewalt. Neben selbst komponierten Titel wie "Perlen, Sekt und Aprikosen", beeindruckenden Interpretationen (Cab Calloways "Minnie the Moocher" – herausragend) wissen die zwei Entertainer ihre Gäste ebenso charmant mit einzubinden: So geschehen bei einer aberwitzigen Kauderwelsch-Interaktion zwischen "Mystere Leu" und Publikum, das den geneigten Queen-Fan an Mercurys Gesangs-Ping-Pong während des Live-Aid-Concerts erinnert haben dürfte.

Höhepunkt seitens "Mystere Leu" ist aber gewiss die grandiose Swing-Version von Radioheads Klassiker "Creep" – intoniert während Schlangenmensch Tigris den Traunreutern mit Verbiegungen und Kontorsions-Nummern schlicht den Atem raubt. Doch auch Evi Niessner steht ihrem Ehemann da in nichts nach. Besonders die ebenfalls geswingte Version von "Gangsta’s Paradise" und die Eigenkomposition "Perlen, Sekt und Aprikosen" begeisterten die Zuschauer. Diese danken es immer wieder mit Zwischenapplaus, am Ende sogar teils mit Standing Ovations.

Mal bunt und schrill, wie ein Gemälde von George Grosz, mal düster und morbide wie ein Brecht-Gedicht, mal selbstironisch-frivol im Stil einer Josephine Baker: "Glanz auf dem Vulkan" ist große Kunst, die fesselt, verführt, elektrisiert – und auch das Publikum in Traunreut mächtig ins Staunen versetzt. Die selbsternannte "Liebeserklärung an die moderne Frau" nimmt mit auf eine Reise durch das Nachtleben der "Goldenen Zwanziger". Sie bildet eine Melange aus dem Besten, was die damaligen Bühnen zu bieten hatten – ohne diese widersprüchliche und auch düstere, erbarmungslose Zeit zu sehr zu verklären.

Ralf Enzensberger

Das Ensemble tritt mit dem Programm "Let’s Burlesque" am 1. und 2. Dezember in Taufkirchen auf. Karten gibt es unter www.kulturzentrum-taufkirchen.de.