Inklusives Theater
Die Quadratur des (Kreide-) Kreises: Neuerfindung des Brecht-Klassikers in Salzburg

13.08.2023 | Stand 12.09.2023, 23:38 Uhr
Helmut Rieger

Die Quadratur des (Kreide-) Kreises gelingt: Brechts Dramenkonzept, experimentelles Theater und inklusive Kunst vereinen sich zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk. −F.: SF/Rittershaus

Brecht einmal anders. Legen wir sein Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“ beiseite und lassen uns auf eine ungewöhnliche, erfrischend neue Fassung mit dem Schweizer Ensemble Hora ein. Die künstlerische Herausforderung, Brechts Parabel über falsche und wahre Elternschaft als inklusive Inszenierung zu präsentieren, hat Helgard Haug angenommen. Seit 30 Jahren – aber zum ersten Mal bei den Salzburger Festspielen – präsentiert Hora experimentelle Stücke. Da die Schauspieler Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sind, bedeutet die Umsetzung von Brechts Text auch ein Stück Theaterpädagogik, für die Magdalena Neuhaus verantwortlich ist.

Bei der Umsetzung für die (offene) Bühne geht es nicht um texttreue „Nacherzählung“ des Dramas, sondern um dessen Kernstück: die Zerreißprobe. Die „Handlung“, die dazu führt, wird in – teilweise improvisierten – Rückblenden nachgeholt. Im Zentrum stehen fünf Figuren: die Gouverneurs-Witwe Natella (Tiziana Pagliaro), ihr kleiner Sohn Michel (Robin Gilly), ihre Dienerin Grusche (Simone Gisler), Dorfschreiber und Laienrichter Azdak (Remo Beuggert) und Soldat Simon (Simon Stuber), der per Video-Projektion zugeschaltet wird. Als sechste Person erfüllt die Musikerin Minhye Ko eine wesentliche Funktion: Sie setzt die Kompositionen von Barbara Morgenstern auf Marimba und Drum-Set um. Die eindrucksvolle Bühnen-Musik verstärkt die jeweilige Stimmung der Figuren, kommentiert das Geschehen.

Die Frau des Gouverneurs („Fürstin“ genannt) rafft nach der Hinrichtung ihres Mannes ihre tragbaren Güter zusammen, bevor sie vor den Revolutionären flüchtet. Ihr Kind Michel lässt sie achtlos zurück. Die Magd Grusche nimmt sich seiner an. Die beiden finden in einem Dorf Zuflucht, in dem Azdak das Sagen hat. Nach Ende des Krieges erhebt Natella Anspruch auf Michel. Dorfrichter Azdak soll entscheiden, wem das Kind zugesprochen wird. Er stellt das Kind in einen Kreidekreis, wobei beide Frauen gleichzeitig an dem Kleinen zerren sollen. Während die „Fürstin“ das Kind auf ihre Seite reißt, lässt Grusche es los, um es nicht zu verletzen. Damit beweist sie wahre Mütterlichkeit. Brechts Botschaft ist eindeutig: Nicht die biologische, sondern die soziale (oder ethische) Mutterschaft zählt.

So einfach sehen Hora und Regisseurin Haug das nicht. Sie spielen acht „Proben“ (Varianten) durch, in denen die Perspektive des Kindes ins Zentrum gerückt wird. Die vierte „Probe“ obliegt dem Publikum: Mit der Bitte um sofortige Lektüre verteilt man Bücher mit Kurzbiografien der Schauspieler und ihren Äußerungen zum Thema Elternschaft.

Während der Lese-Phase steht die Zeit still: Intensiver – und berührender – kann man Illusionsbrechung nicht gestalten. Gleichzeitig wird das „Method Acting“, bei dem Darsteller eigene Erlebnisse auf Bühnenrollen übertragen, konsequent angewandt. Der „Kreidekreis“ entwickelt sich zum „Lehrstück“ für alle Beteiligten, Bühnen- und Zuschauerraum werden eines. Die Quadratur des (Kreide-) Kreises gelingt: Brechts Dramenkonzept, experimentelles Theater und inklusive Kunst vereinen sich zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk. Alle Fragen sind „offen“, und das Publikum ist – im besten Sinn – „betroffen“, wie Jubel- und Bravorufe beweisen.

Helmut Rieger


• Weitere sechs Vorstellungen in der „Szene Salzburg“: 14.-22.8.