Werk aus dem Nachlass
Die heimliche Liebe des Günter Grass: Unveröffentlichte Erzählung „Figurenstehen“

„Figurenstehen“: Eine späte Erzählung aus dem Nachlass ist jetzt im Steidl-Verlag erschienen

01.02.2023 | Stand 17.09.2023, 4:10 Uhr

Die schöne Uta – eine Steinfigur – wird zu einer Obsession des Schriftsellers. 2003 hat er eine Erzählung über sie geschrieben. −Foto: Steidl

Auf Papier ist vieles möglich, schreibt Günter Grass. Und der muss es wissen. Gegen Ende der 80er Jahre besuchte er die DDR und machte einen Abstecher in den Naumburger Dom, um im dort Westchor die weltberühmten Stifterfiguren zu bestaunen. Allen voran, klar, die Uta, die als schönste Frau des Mittelalters gilt. Und weil für einen Schriftsteller weder zeitliche noch räumliche Grenzen gelten, zumal, wenn es um schöne Frauen geht, fasste er den Entschluss, die Figuren zu sich zum Essen nach Lübeck einzuladen.

In seiner 2003 geschriebenen Erzählung „Figurenstehen“ berichtet Günter Grass (1927-2015) von dieser historischen Tafelrunde und dem Zauber, den die schöne Uta auf ihn ausübte. „Mit niemandem war darüber zu sprechen. Selbst meiner Frau gegenüber verlor ich kein geständiges Wort. Was hätte ich auch gestehen sollen?“ Im Nachlass fand sich das bis dahin unbekannte Manuskript.

Während eine erste Fassung vom 5. August 2003 posthum in der Schriftenreihe der Günter-und-Ute-Grass-Stiftung für einen exklusiven Kreis veröffentlicht wurde, erscheint nun eine spätere Fassung vom 13. August als Buch im Steidl-Verlag, der sich auf vorbildliche Weise des Gesamtwerks des 2015 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers von 1999 angenommen hat. Noch einmal ertönt so dessen unverkennbar kauziger Erzählton aus dem Jenseits. Auf Papier ist eben, wie wir gelernt haben, vieles möglich.

Kurzweilig erzählt Günter Grass, wie die Fremdenführerin im Dom dem Westbesuch erläutert, dass es dem unbekannten Naumburger Meister, der die Stifterfiguren im 13. Jahrhundert erschaffen hat, auf fabelhafte Weise gelungen sei, die „Klassengegensätze, wenn nicht aufzuheben, dann doch durchlässig erscheinen zu lassen“, indem er die der Herrscherklasse angehörenden Stifter wie ganz normale Menschen gestaltet habe. Und wie er selbst später den historischen Gestalten „Kartoffeln mit Quark“ und „echte Thüringer Bratwürste“ auftischt und die so kräftig zulangen, dass der Gastgeber am Ende froh ist, noch eine Packung Fischstäbchen in Reserve zu haben. Die schmecken, runtergespült mit einer eisgekühlten Cola, sogar der sonst ein wenig mäkeligen Uta.

Jahre später dann, die Mauer ist schon gefallen, sieht Grass die edle Dame wieder. Vor dem Kölner Dom nimmt eine Straßenkünstlerin versteinert die Pose der Uta von Naumburg ein. Mit Spraydose steingrau gepudert und auf einem Podest verharrend verdient sie sich so als Figurensteherin das Geld der Passanten. Geradezu zu einer Obsession wird die Schöne dem Schriftsteller und verfolgt ihn über Mailand bis nach Palermo. Hat es einen Grund, warum sie seine Einladung immer wieder ablehnt? Ist der Mann, der Uta begleitet, so etwas wie ihr Zuhälter? Und hat sie am Ende gar mit dem Anschlag auf die Frankfurter Börse zu tun, vor der sie am Tag zuvor posierte? Der Fantasie des Autors sind keine Grenzen gesetzt, wie Grass in seiner zauberhaften Erzählung einmal mehr beweist. Figuren aus Muschelkalk erweckt er eben so schnell mal zum Leben wie lange vergangene Zeiten. Die Literatur macht’s möglich.

Schriftsteller sind Spieler. Auf dem Papier verschieben sie ihre Figuren und mischen sich mitunter schon mal mitten unter sie. So wie Günter Grass das selbstironisch in seiner munteren Erzählung getan hat. Nicht jeder mag heute noch ausreichend Geduld mitbringen, den kunstvoll gewirkten Sätzen des Nobelpreisträgers nachzulauschen. Auch sie stammen aus einer anderen Zeit, so wie die schöne Uta als Ehefrau des Markgrafen Ekkehard II. von Meißen (um 985 bis 1046). Wer aber mit diesem Schriftsteller großgeworden ist und seine Bücher kennt, für den ist diese kleine Erzählung, die mit Zeichnungen aus der Hand von Günter Grass launig illustriert ist, eine echte Entdeckung.

Welf Grombacher


Günter Grass: Figurenstehen. Steidl, 72 Seiten, 18 Euro