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„Der vermessene Mensch“: Der erste Genozid der Deutschen

22.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:40 Uhr

Der junge Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher, mit Girley Charlene Jazama) zweifelt in „Der vermessene Mensch“ an den Theorien der Rassenlehre. −Foto: Julia Terjung / Studiocanal GmbH

Vom Ethnologen zum Mittäter am Völkermord – „Der vermessene Mensch“ greift das dunkelste Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, den Genozid an den Herero, überzeugend auf. „Politisch korrekt“ und doch erschütternd.



Das kaiserliche Berlin des Jahres 1896, wie es Lars Kraume zu Beginn von „Der vermessene Mensch“ in wenigen Bildern zeichnet, ist eines der Wissenschaft, der Belustigung und beider unseliger Vereinigung. An der Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität, lernen angehende Ethnologen feixend, dass Schädelgröße und Intelligenz angeblich korrelieren. Die Minderwertigkeit eines Buschmanns lasse sich also allein daran erkennen, dass dessen Kopf kleiner sei als der eines „Berliner Arbeiters“. Einen Steinwurf entfernt, im Treptower Park, erfreuen sich die Menschen im Rahmen der Deutschen Kolonialausstellung 1896 am Anblick echter „Hottentotten“ in Käfigen.

Doch nur beiläufig kommt diese unwürdigen Szene ins Bild. Stattdessen fällt der Blick auf eine Herero-Gesandtschaft aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia. Doch anstatt ihnen zuzuhören, vermessen deutsche Wissenschaftler die Gäste: Nasenbreite, Anzahl der Zähne, Hautfarbenabgleich, Schädelumfang. „Jeder Student bekommt ein eigenes Exemplar“, verspricht Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) und die jungen Karrieristen machen sich mit Eifer an die Arbeit.

Nur die Hauptfigur Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) scheint Skrupel zu haben, als bei seinem Exemplar die Tränen fließen. Er macht trotzdem weiter. Und staunt, als er feststellt, dass sein Forschungsobjekt, die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), einen Sinn für Literatur besitzt, mathematisch und philosophisch bewandert ist und sich hin und wieder ins Reich der Fantasie flüchtet, „wie jeder Mensch“. Doch mit seiner These, es gebe keine Rassen, nur unterschiedliche kulturelle Prägungen, erntet Hoffmann bei seinen Konkurrenten nur Hohn.

„Der vermessene Mensch“ hat zwei Ausgangspunkte. Erstens Kraumes eigene Reisen nach Namibia kurz nach der Unabhängigkeit des Landes von Südafrika Anfang der 1990er Jahre. Der zweite Ausgangspunkt ist der 1978 erschienene Roman „Morenga“ von Uwe Timm. Die Geschichte eines der bekanntesten Anführer im Aufstand der Ovaherero und Nama, erzählt aus der Perspektive eines deutschen Veterinärs, war für Kraume prägend.

Leonard Scheicher spielt den fiktiven Volkskundler Alexander Hoffmann mit zurückhaltender Naivität. Im Schutz der kaiserlichen Armee reist der feingeistige und ehrgeizige Sohn eines berühmten Ethnologen nach Afrika mit dem Auftrag, „Artefakte“ und andere „materielle Zeugnisse“ einzusammeln, die bei so einem Krieg nun einmal anfallen. Aber er ist auch getrieben von der Hoffnung, Beweise für seine These zu finden und vor allem Kezia wiederzusehen.

Es wurde dem Film vorgeworfen, sich „politisch korrekt“ in alle Richtungen abzusichern. Doch „Der vermessene Mensch“ überzeugt und erschüttert gerade durch seinen Verzicht auf Überwältigung. Auch dadurch, dass er das monströse Geschehen des Genozids statt in opulenten Massenszenen über konkrete Gegenstände und Taten einer überschaubaren Figurenzahl zeigt. Nach Schätzungen von Historikern sind zwischen 1904 und 1908 in „Deutsch-Südwestafrika“ zwischen 60000 Herero und etwa 10000 Nama ermordet worden, die vielen anderen Verbrechen von Vergewaltigungen bis zur Grabschändung nicht eingerechnet. Es war der erste Genozid des 20. Jahrhunderts; geplant und durchgeführt von Deutschen.

Der Film ist mutig darin, den Antihelden dabei zu beobachten, wie er vollständig korrumpiert wird. Hoffmann schändet schließlich Gräber und belügt sich darüber selbst. Der glaubensfeste Oberleutnant Wolf von Crensky (Sven Schelker), mit dem Hoffmann in Afrika einen zweifelhaften Pakt schließt, erklärt es ihm einmal so: Die Menschen hätten mehr Angst vor dem Wissenschaftler, in dessen Satteltaschen die Schädel ihrer Liebsten klapperten, als vor mordenden Soldaten. „Wir bringen nur den Tod, Sie aber den Untod.“ Wer den Schädeln die Bestattung verweigert, raubt den Geistern ihre Heimat und den Nachkommen die Identität. Bis heute.

Cosima Lutz


•Deutschland/Namibia/Südafrika 2022, von Lars Kraume, 116 Minuten, frei ab 12 Jahren
•Trailer auf pnp.de/kultur