Biografie „Ich habe Wut und Hass besiegt“
Auschwitz-Überlebende Rachel Hanan bricht ihr Schweigen

Jahrzehnte hat sie ihre Gefühle für sich behalten – Jetzt erscheint ihr Buch

19.01.2023 | Stand 17.09.2023, 5:12 Uhr

93 Jahre alt ist Rachel Hanan heute. Dieses Buch soll ihre Botschaft über ihr eigenes Leben hinaus vermitteln. −Foto: Heyne Verlag

Überleben. Und dann Überlebende sein. Das ist Rachel Hanan etwa seit ihrem 16. Lebensjahr. Ein Jahr zuvor, ziemlich genau an ihrem 15. Geburtstag, war sie ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt worden. An diesem Tag verlor sie ihre Mutter Ethel und ihren Vater Fivish, ihre Brüder Zvi und Yehuda. An welchem Tag ihre Schwester Chaya und deren Tochter Etia getötet wurden, ist nicht bekannt. Damals wusste sie das alles noch nicht. Sie wusste nicht, was nach der Selektionsrampe kommt. Und sie wusste auch noch nicht, dass ein ganz bestimmter Geruch wie von verbrannten Hühnerknochen sie an diese Zeit erinnern wird. Fast 80 Jahre später weiß Hanan, dass Auschwitz sie immer wieder in ihren Alpträumen heimgesucht hat.

50 Jahre hat Rachel Hanan geschwiegen und ihre Erlebnisse weitgehend für sich behalten. In ihren gestern erschienenen Memoiren „Ich habe Wut und Hass besiegt“ veröffentlicht sie ihre Geschichte erstmals in Buchform. „In der Vergangenheit wollte ich mich auf die positiven Gefühle in meinem Leben fokussieren, das war wichtig, um mich zu heilen und zu entwickeln und um das zu erreichen, was ich erreichen wollte“, sagt sie. Nicht einmal mit ihrem Mann hatte sie darüber gesprochen, auch wenn er sie Nacht für Nacht in den Armen hielt, wenn sie im Schlaf schrie.

„Es war schwer, für das Buch so tief zu gehen. Sogar schwerer, als wenn man als Teil einer Delegation zurück nach Auschwitz reist“, sagt sie im Interview. „Während der Arbeit am Buch habe ich über Wochen tief in meinen Gefühlen gegraben, es war psychische und körperliche Anstrengung und dementsprechend nicht leicht.“

In erster Linie schrieb sie für ihre eigenen Nachkommen und Freunde. Das Buch, das zunächst nur auf Deutsch erscheint, später auch ins Englische und Hebräische übersetzt werden soll, sei hier als Mahnung an junge Menschen gerichtet. „Nirgendwo auf der Welt sollen solche oder ähnliche schreckliche Dinge jemals wieder geschehen.“

Die 93 Jahre alte Rachel Hanan kommt aus dem heute rumänischen Unterwischau. Damals war die Region von Ungarn besetzt – einem Verbündeten der Nationalsozialisten. In ihrem Buch beschreibt sie die Tage vor der Deportation – und wie unbekümmert sie noch war. Sie erzählt von ihrer in Auschwitz stressbedingt ausgefallenen Menstruation und der Angst, niemals Kinder bekommen zu können. Sie erzählt auch, wie sie sich beim Todesmarsch ins Konzentrationslager Theresienstadt – bloß noch ein Skelett und 25 Kilogramm leicht – an ein Stück Brot klammerte und es ihre letzte Hoffnung war. Bis heute wirft sie niemals Brot weg, auch wenn sie Jahrzehnte später und Tausende Kilometer entfernt in der nordisraelischen Stadt Haifa lebt.

Der jüdische Staat habe der langjährigen Sozialarbeiterin bei der Heilung geholfen. „Dass das jüdische Leben zurückkommt, ist das Allerwichtigste. Ich freue mich seit meinem ersten Tag in Israel über jeden Erfolg, jedes Gebäude, das gebaut wird, und über jeden Baum, der auf dem Land wächst, über Kinder, die im Kindergarten spielen und nicht gewaltsam in Vernichtungslager gebracht werden. Auch wenn ich manches kritisch sehe, was in meinem Land geschieht, bin ich sehr froh darüber, dass meine Kinder hier in Israel leben, und nicht irgendwo anders in der Welt.“

Trotz allem ist sie immer wieder nach Auschwitz zurückgekehrt, um jungen Menschen nahezubringen, was sie erlebt hat. Ihre Hoffnung ist, dass jedermann sich wie „a mentsch“ verhält. So bezeichnet man im Jiddischen jemanden, der voller Integrität und Ehre ist.

Weronika Peneshko


Hanan, Rachel: Ich habe Wut und Hass besiegt − Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat, Heyne, 288 S., 20 Euro