Barrie Koskys Inszenierung im Video
Der neue "Rosenkavalier" an der Münchner Staatsoper

Grandios: Barrie Kosky inszeniert die Strauss-Oper an der Bayerischen Staatsoper

22.03.2021 | Stand 21.09.2023, 4:03 Uhr

Der uralte Engel Cupido entfernt am Ende einen Zeiger für sie, die Zeit bleibt stehen: Sophie (Katharina Konradi) und Octavian (Samantha Hankey) vor der Standuhr des Lebens im leeren Münchner Nationaltheater. −Foto: Hösl

Am Ende schweben sie gen Himmel: das unsterbliche Liebespaar, Octavian und Sophie. Die Bühne verdunkelt sich, nur noch die Standuhr leuchtet, der uralte Engel Cupido öffnet das Gehäuse und entfernt einen Zeiger. Die Zeit steht still – für die Liebe. Ein Schluss wie im Märchen, ein Ausweg ins Unwirkliche.

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Aber so richtig in der Mechanik der Zeit geschieht nichts in Barrie Koskys Neuinszenierung des "Rosenkavaliers" von Richard Strauss an der Bayerischen Staatsoper. Die Premiere fand coronabedingt im Fernsehen auf Arte und im Internet als Stream statt. Es ist ein großes Spiel, schon wie Librettist Hugo von Hofmannsthal und Strauss die Oper gestaltet haben. Ein schönes Märchen – wie aus der Zeit gefallen. Und doch so menschlich, so lebensklug wie kaum etwas, was man auf den Theaterbühnen erleben kann. Genauso inszeniert Kosky die wohl populärste Oper des 20. Jahrhunderts. Als eine Geschichte über die Zeit und zwischen den Zeiten. Als wunderschönen Stilbruch zwischen allen Moden und Richtungen, in der Raum und Zeit außer Kraft gesetzt sind.

Zentrales Utensil der Inszenierung ist die Standuhr, deren Zeiger während der Ouvertüre in einem irren Wirbel über das Ziffernblatt laufen. Und auf deren Pendel die Marschallin sitzt, nachdem sie ihre nachdenklich-weise Arie im ersten Akt gesungen hat.

Tatsächlich ist Koskys Inszenierung ein großer Stilmischmasch. Die Hauptdarsteller agieren in Kostümen der Gegenwart, aber Requisiten und Figuren der Vergangenheit tauchen immer wieder auf: der Sänger aus der Zeit Ludwigs XIV., die Bacchus-Figuren im zweiten Akt, die silberne Prunkkutsche Ludwig II.. Der erste Akt spielt in edlem Dunkel, im Hintergrund allenfalls Andeutungen eines Rokokoschlosses. Im zweiten Akt befinden wir uns im Reich der Allegorien, riesige Gemälde im Rubens-Stil hängen an den Wänden, die Figuren auf der Bühne scheinen manchmal direkt aus den Bildern gelaufen zu sein. Im Schlussakt findet die Intrige in einem alten Kinosaal statt, die Blamage des Großmauls Ochs muss sich vor Publikum abspielen.

Aber besser noch ist die Schauspielführung. Kosky und der designierte Generalmusikdirektor der Staatsoper, Vladimir Jurowski, haben ein fantastisches Sängerensemble zusammengestellt: Marlis Petersen, die Marschallin, ist hier eine noch ziemlich jugendliche, wendige und attraktive Frau, sie verströmt glockenreine Soprantöne. Christof Fischesser als Baron Ochs ist ein hyperaktiver Möchtegern-Casanova, immerzu bemüht, die Fäden seiner verschiedenen Liebschaften gleichzeitig in den Händen zu halten. Es macht bereits Stress, ihm nur zuzusehen, aber man ist hingerissen von seiner erdigen, tiefschwarzen Stimme. Katharina Konradi als Sophie kommt aus dem Strahlen im zweiten Akt überhaupt nicht heraus, so erwartungsfroh hofft sie auf ihren Bräutigam, und so verliebt-hingerissen ist sie dann von Octavian. Dabei singt sie mit traumhafter Leichtigkeit. Wunderbar auch Samantha Hankey als Octavian, die verblüffend männlich die Herzen der Frauen erobert. Das alles sind Traumbesetzungen. Und wenn drei von ihnen (Octavian, Marschallin, Sophie) im Terzett im dritten Akt immer höhere Koloraturen erklimmen, dann ist wirklich der Höhepunkt der Oper erreicht.

Auswirkungen der Pandemie sind allenfalls beim Orchester zu spüren. Vladimir Jurowski griff auf die reduzierte Version von Eberhard Kloke zurück – dabei sitzen nur rund 40 Musiker im Orchestergraben. Um ein gewisses Maß an Fülle herzustellen, treten Konzertflügel und Harmonium hinzu. Dem Sound tut das fast sogar gut. Die Orchesterbegleitung wirkt spritziger, kammermusikalischer, manchmal auch ein bisschen schrill und wenig romantisch-sämig. So gelingt Jurowski eine eher nüchtern-bewegliche Darstellung mit vielen interessanten Differenzierungen. Eine Wohltat also, ein meisterhafter Abend – und das ohne Publikum, einsam vor den Fernsehkameras.

Jesko Schulze-Reimpell