PNP-Spendenaktion
Neuanfang mit Katze: Leona und Diana flohen aus Luhansk in Westukraine

01.12.2022 | Stand 18.09.2023, 21:35 Uhr

Aus der Ostukraine ins Karpatenvorland: Leona Kostyukova (57) floh mit ihrer Tochter Diana (31) und Katze Arman aus Sjewjerodonezk. Heute leitet sie eine Notunterkunft in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine.

Von Eva Fischl

Leona Kostyukova floh mit ihrer Tochter Diana aus dem umkämpften Osten auf Umwegen nach Iwano-Frankiwsk im Südwesten der Ukraine. Dort fühlen sich die beiden Frauen zum ersten Mal wieder sicher und kümmern sich nun um andere Flüchtlingsfamilien.



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Mit Grauen erinnert sich Leona Kostyukova (57) an den schlimmsten Tag ihres Lebens – den 24. Februar 2022, als der russische Angriff auf die Ukraine beginnt. Leonas Heimatstadt Sjewjerodonezk liegt in der Region Luhansk im Osten des Landes. Die Stadt, in der vor dem Krieg etwa 100.000 Einwohner lebten, war von Anfang an Ziel russischer Raketen.

„Als der Beschuss begann, waren meine Tochter und ich in unserer Wohnung. Wir hatten Todesangst“, erzählt Leona im Videotelefonat mit unserer Zeitung. Zwei Wochen lang harrt sie mit ihrer Tochter Diana (31) im Bombenhagel aus. „Bald gab es kein Licht und kein Gas mehr in der Stadt. Die Lebensmittel wurden knapp“, erinnert sich Leona. „Wir haben wegen der Kälte dick angezogen geschlafen – unter unseren Betten, weil wir Angst hatten, dass uns die Splitter töten könnten, wenn die Fenster bersten.“ Nach 14 traumatischen Tagen, in denen sie sich wie von der Welt abgeschnitten fühlen, beschließen die beiden Frauen, aus der Stadt zu fliehen. „Ich sagte zu meiner Tochter: Wir müssen da raus. Komme, was wolle.“

Alle Kontakte im Handy nach Hilfe abtelefoniert

Eine Freundin Dianas schließt sich Mutter und Tochter an. In ihrer Not steuern die Frauen den Bahnhof an. Doch dort ist es gespenstisch ruhig. Weil die Gleise in beide Richtungen bereits zerstört sind, fahren keine Züge mehr. „Mit der Hilfe von Fremden haben wir uns dann in das Bahnhofsgebäude geflüchtet“, erzählt Leona. „Dort haben wir die nächste Nacht verbracht. Um uns herum hörten wir ständig die Raketeneinschläge – es war grauenvoll. Wegen der Kälte sind wir die ganze Zeit umhergelaufen und haben in unserer Not alle Kontakte in unseren Handys durchtelefoniert, um irgendwie Hilfe zu bekommen. Doch die einen waren schon weg, und die anderen konnten uns auch nicht helfen.“

Der letzte Kontakt in Dianas Liste sei ein junger Grieche gewesen, den sie mal in einer Diskothek kennengelernt und dessen Nummer sie noch eingespeichert hatte, erzählt Leona. „Was soll’s?“, denkt sich die Tochter in ihrer immer größer werdenden Verzweiflung und ruft ihn an. Ausgerechnet von dem Mann, von dem sie sich am wenigsten erhofft haben, kommt spontan Hilfe. „Er konnte sich zwar nicht mehr so richtig an Diana erinnern, aber er war noch in der Ukraine und versprach, uns einen Wagen zum Bahnhof zu schicken“, erinnert sich Leona.

In der Zwischenzeit organisieren ukrainische Soldaten die Evakuierung der zivilen Bevölkerung. Am nächsten Morgen fahren vom Bahnhof drei Busse ab. Der Fahrer des Griechen, der die Frauen abholen sollte, wird nicht durch den Checkpoint gelassen. „Es war großes Chaos überall – wir machten aus, dass wir uns beim nächsten Kontrollpunkt in Swjatohirsk treffen“, erinnert sich Leona.

Der Grieche hält Wort, holt die drei Frauen ab und nimmt sie bei sich auf. „Er wurde von seiner Familie angefleht, das Land zu verlassen“, erzählt Leona. Doch er entscheidet sich dafür zu bleiben und zu helfen – und organisiert mit den Frauen die Evakuierung von geflüchteten und vertriebenen Menschen und deren Tiere.

Denn das liegt der 57-Jährigen besonders am Herzen. Leonas Liebling Arman – ihre Katze, die sie um nichts in der Welt alleine zurückgelassen hätte – ist von Anfang an dabei. „So wie mir ging es ganz vielen Menschen, die ihre Tiere nicht dem sicheren Tod aussetzen wollten“, sagt Leona. Mit Hilfe der jüdischen Gemeinde von Dnipro und ukrainischen Soldaten koordinieren die Vier einen Monat lang Helfer mit Kleinbussen, die Mensch und Tier von der immer näher rückenden Frontlinie in Richtung Westen bringen.

„Müssen nicht mehr täglich um unser Leben fürchten“

Als rund um Swjatohirsk Brücken zerstört werden und schließlich auch die Kirche, in der die Frauen kurz zuvor noch gebetet hatten, in Schutt und Asche liegt, flüchten die Frauen selbst nach Dnipro. Dort erreicht Leona ein Job-Angebot als Leiterin einer Notunterkunft im Westen der Ukraine. Wieder setzen sich Leona und ihre Tochter in Bewegung – Ziel ist Iwano-Frankiwsk, eine Region im Südwesten der Ukraine.

Mittlerweile leben die beiden fast 1500 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt. „Hier im Westen sind wir in relativer Sicherheit. Es gibt zwar vereinzelte Angriffe, aber wir müssen nicht mehr täglich um unser Leben fürchten“, erzählt Leona. „Ich bin einfach nur glücklich, dass meine Tochter und meine Katze bei mir sind.“

Auch der junge Grieche, der die Frauen im Frühjahr bei sich aufgenommen hat, arbeitet immer noch als freiwilliger Helfer in der Ukraine. „Er ist ein guter Freund geworden. Wir haben regelmäßig Kontakt“, berichtete Leona.

Die Arbeit und das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, geben der 57-Jährigen Kraft. „Ich bin froh, diese Arbeit zu haben und helfen zu können“, sagt Leona. 101 Bewohner sind derzeit in den drei Häusern der Notunterkunft untergebracht – in erster Linie Mütter mit Kindern und Senioren. Die Hilfsorganisation CARE und ihr lokaler Partner Vostok-SOS haben die Erweiterung der Unterkunft finanziert und die Häuser mit Betten, Matratzen, Stühlen, Tischen und Schränken ausgestattet.

Ohne die Hilfe sähe die Lage ernst aus. „Wir mussten im Sommer Flüchtlinge ablehnen, weil wir keine freien Betten mehr hatten und sich das dritte Haus noch im Aufbau befand“, erzählt Leona. „Viele kommen in der Unterkunft mit nichts an. Sie brauchen Klamotten, Möbel, Küchengeräte, Medikamente. Aktuell sind 30 Kinder bei uns untergebracht. Sie alle müssen Online-Unterricht machen und brauchen dafür Geräte.“ Nach all dem Schrecken, den sie erlebt hätten, seien die Menschen zufrieden und dankbar für alles. „Für die Kinder gibt es sogar einen kleinen Spielplatz draußen“, berichtet die Leiterin der Unterkunft stolz. Alles sei ordentlich und gepflegt. Ein Ort, an dem geflüchtete Menschen wieder aufatmen können.

Ins Ausland? „Nein. Heimat ist Heimat“

„Der Bedarf ist weiterhin groß. Es ist ein Kommen und Gehen“, sagt Leona. Viele, die die Möglichkeit hätten, in ihre Heimatorte zurückzukehren oder zu Verwandten im Ausland weiterzureisen, würden dies auch tun.

Die Ukraine zu verlassen, sei für sie nie eine Option gewesen. „Heimat ist Heimat“, sagt Leona. Obwohl sie weiß, dass es das, was sie vor dem 24. Februar als Heimat betrachtet hat, nicht mehr gibt und ihre Stadt heute unter russischer Besatzung steht. Bereits im Juni befahl der Gouverneur der Region Luhansk den Rückzug der ukrainischen Truppen aus Sjewjerodonezk, da 90 Prozent der Stadt zerstört seien, wie unter anderem das Journalisten-Netzwerk „Radio Free Europa – Radio Liberty“ berichtete. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten beklagte bereits damals die aussichtslose Versorgungslage der verbliebenen Bevölkerung.

Trotzdem träumt Leona davon, noch einmal nach Sjewjerodonezk zurückkehren zu können. „Ich würde gerne noch einmal in meine Wohnung oder in das, was davon übrig geblieben ist.“ Große Hoffnungen macht sie sich nicht. Und dennoch sehnt sie sich nach einem Erinnerungsstück aus ihrem alten Leben. Aus der Zeit vor dem 24. Februar, die ihr ein dreiviertel Jahr später wie eine Ewigkeit entfernt vorkommt.