PNP-Spendenaktion
Die Helden vom Hauptbahnhof

15.12.2022 | Stand 17.09.2023, 8:17 Uhr

Valentin Bordun koordiniert das medizinische Personal am Bahnhof. An seinem ersten Arbeitstag kamen 41000 Flüchtende in Lviv an, sagt er. −Fotos: Huber/Easter

Noch immer kommen viele Schutzsuchende am Hauptbahnhof von Lviv in der Westukraine an. Freiwillige wie Valentin Bordun (23) helfen ihnen.



Ein eisiger Wind fegt durch die gigantische Ankunftshalle am Hauptbahnhof von Lviv. Obwohl das Thermometer über dem Haupteingang des prächtigen Jugendstil-Gebäudes nur minus ein Grad anzeigt, fühlt es sich deutlich kälter an. Viele Lichter rund um den Verkehrsknotenpunkt sind erloschen, auf dem Vorplatz ist es finster. Die Behörden fahren das Stromnetz immer wieder gezielt herunter, um die Leitungen nach den russischen Raketenanschlägen zu entlasten.

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Erst vor zwei Stunden gab es einen landesweiten Alarm, mehrere Menschen seien gestorben, heißt es. Doch trotz der widrigen Umstände, trotz der gespenstischen Atmosphäre an diesem Montagabend, steht der Bahnhof von Lviv für viele Ukrainer vor allem für eines: Hoffnung.

Dort kommen seit dem 24. Februar, seit Russlands Überfall, Evakuierungszüge aus der gesamten Ukraine an, vor allem aus dem Osten. Sie bringen Menschen aus den Kampfgebieten und den vom Bombenterror zerstörten Städten in den vermeintlich sicheren Westen. Butscha. Bachmut. Cherson. Städte, die in Europa vor allem Assoziationen mit Krieg und Gräueltaten wecken, waren einst ihr Zuhause. In Lviv suchen Hunderttausende Schutz. CARE und viele andere Organisationen kümmern sich in der Großstadt um die flüchtenden Menschen.

Flüchtende haben oft nur das, was sie am Körper tragen

Einer, der am Bahnhof hilft, ist Valentin Bordun (23). Seine Größe und die breite Statur verschleiern das junge Alter. Doch seine Kleidung verrät schnell etwas über seine Arbeit. Er trägt eine blaue Weste mit der Aufschrift: Volunteer – Freiwilliger. Valentin wartet bereits am Bahnsteig. Sonst ist kaum jemand da. Nur vereinzelt sieht man Menschen in die wenigen Züge ein- und aussteigen. Dann unterbricht das Heulen der Loks für einen kurzen Augenblick die Stille. Eine Szenerie, wie sie sich noch vor wenigen Monaten niemand vorstellen konnte.

An Valentins erstem Arbeitstag als Freiwilliger seien hier rund 41000 Menschen angekommen. Über eineinhalb Stunden habe er gebraucht, um sich einmal durch die Menschenmenge zu drücken. „Es war chaotisch“, sagt er in brüchigem Englisch. Valentin und seine Mitstreiter übernehmen die Erstversorgung der Geflüchteten, begrüßen sie, geben ihnen Lebensmittel, versorgen sie mit Hygieneprodukten und Kleidung – manche mussten so überhastet aufbrechen, dass sie mit nichts als dem, was sie am Körper tragen, Lviv erreichen, sagt Valentin.

Er ist der Koordinator des medizinischen Personals. Das passe zu seinem beruflichen Hintergrund, sagt er, denn er arbeite in einem Krankenhaus. Sein Team betreut Menschen mit leichteren Verletzungen und leistet erste Hilfe. Mindestens ebenso wichtig sei meist die psychische Behandlung, sagt Valentin. Die Menschen, die aus den Frontgebieten ankommen, seien häufig verstört und traumatisiert. „Wir müssen immer neu beurteilen, wie wir helfen können“, sagt er.

Für den jungen Helfer ist heute ein besonderer Tag, es ist der landesweite Tag der Freiwilligen. Dafür haben sie eine kleine Feier auf die Beine gestellt, die im Obergeschoss des Bahnhofsgebäudes stattfindet. Hinter einer unscheinbaren Eingangstür liegt der Raum der Freiwilligen. An einer Wand hängt die blau-gelbe ukrainische Flagge neben einer rot-schwarzen Fahne – sie ist das Zeichen der nationalistischen Ukrainischen Aufständischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg und danach gegen die Sowjetunion kämpfte. Für den deutschen Beobachter befremdlich, da diese Armee an den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg beteiligt war. Im Bahnhofsgebäude soll sie die Solidarität mit den Truppen zeigen, sagt Valentin. Ob sich der junge Helfer und seine Kollegen mit dem problematische Rolle dieser Armee kritisch auseinandersetzen? Ungewiss. Dem Helferkreis um Valentin geht es vor allem um humanitäre Hilfe. In dem Raum stehen Hilfsgüter aus der ganzen Welt. Wasser, Decken, Rollstühle, Kleidung und vieles mehr haben die Freiwilligen für die Hilfesuchenden gesammelt.

Rund 50 Helfer sind heute gekommen, es gibt Tee und Kaffee. Normalerweise seien 20 bis 40 Freiwillige im Einsatz, sagt Valentin. Das variiere von Tag zu Tag, schließlich müssten die meisten ja auch noch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Was bereits nach den ersten Momenten im Freiwilligen-Raum auffällt: Die Helfer sind sehr jung. Zwar engagieren sich auch Erwachsene, doch vor allem Jugendliche sind heute gekommen, sogar ein Kind ist hier.

Das Mädchen heißt Vasilina. Es ist sechs Jahre alt. „Ich bin hier, weil ich den Menschen helfen möchte“, erzählt es schüchtern. Vasilina schiebt oft Menschen im Rollstuhl herum. Sie hilft ihrem Vater Oleksandr Postenko, wie Valentin Teil des medizinischen Personals. Oleksandr arbeitet in der Nachtschicht. Er ist für ankommende Busse und die Ordnung im Bahnhofsgebäude zuständig.

Oleksandr stammt aus Charkiw, lange Zeit Frontstadt, bis die ukrainische Armee die Russen aus dem Gebiet vertrieb. Oleksandr und Vasilina kamen selbst als Flüchtlinge hier an, nun helfen sie. Warum? „Ich würde sagen, ich bin aus Liebe hier. Als ich in Lviv ankam, wurde ich von Freiwilligen in Empfang genommen. Sie haben mich versorgt und aufgewärmt. Das war der Funke, der Auslöser – und das Feuer brennt immer noch“, sagt Oleksandr. Doch er hat Angst vor den bevorstehenden Wintermonaten. Nicht um sich selbst, wie er sagt, aber davor, dass seine Tochter frieren muss und um die ankommenden Menschen. Hoffnung geben ihm die Soldaten, die „großartige Arbeit leisten“. „Sie kämpfen an der Front, wir kämpfen hier. Sie (die Russen, Anmerkung d. Red.) werden uns niemals unterkriegen.“

Kälte und Übermüdung erschweren Arbeit

Generell arbeiten viele Menschen mit eigener Fluchtgeschichte als Freiwillige. Nicht nur am Bahnhof – Einrichtungen wie diese gibt es in der ganzen Stadt. Über 300 Helfer engagieren sich in dem Netzwerk, dem Valentin angehört. Viele von ihnen sind für die heutige kleine Feier zusammengekommen. „Ihr schreibt Geschichte“, sagt die Chefin der jungen Truppe in einer Rede. Dann meldet sich eine Jugendliche. Sie möchte ein Gedicht vortragen, sagt das Mädchen. Gespannt lauschen alle. Es geht um ihre Motivation, darum, warum sie sich so viele Stunden für die Ankommenden einsetzt. Der Applaus hallt lange durch den kühlen Raum.

Wie Oleksandr ist auch Natalya selbst als Schutzsuchende nach Lviv gekommen. Ihren vollen Namen verrät sie nicht. Natalya stammt aus Saporischschja. Mit ihrer Arbeit möchte sie sich bei der Stadt und den Menschen bedanken. Ihr Einsatz wird gebraucht. Natalya ist Psychiaterin, die Nöte der Menschen seien oft groß. Doch Kälte und Müdigkeit erschwerten ihre Arbeit. Im Winter sei es besonders herausfordernd, den Menschen zu helfen. Was gibt ihr Hoffnung für die kommenden Monate? „Der Glaube an mein Land“, sagt sie.

Es ist diese Überzeugung, die auch Valentin Bordun täglich zum Bahnhof kommen lässt. Die Hilfe der Freiwilligen werde noch immer dringend gebraucht, sagt er, obwohl inzwischen deutlich weniger Menschen ankommen als noch im Frühjahr. Zwischen 200 und 300 seien es jeden Tag. Doch unter ihnen sind viele Alte und Kranke. Das bedeutet: Weniger Menschen, aber keine Entlastung für die Ehrenamtlichen. Trotz eisiger Temperaturen, Stromausfälle und Überlastung: Die Menschen hier sind entschlossen, weiter zu machen – bis zum Frieden. Darüber sind sich alle einig.