PNP-Spendenaktion
CARE-Helferin im Osten der Ukraine: „Das Grauen mit eigenen Augen gesehen“

16.12.2022 | Stand 12.10.2023, 10:15 Uhr

Auf dem Spielplatz vor diesem zerbombten Häuserblock in Sviatohirsk türmt sich der Schutt. Hier wird so schnell kein Kind mehr herumtoben können. −Fotos: CARE

Lena Waldmann (34) organisiert vor Ort die humanitäre Hilfe von CARE in der Ukraine. Im Interview erklärt sie, was die Menschen jetzt brauchen, und erzählt, was sie selbst in den befreiten Regionen im Osten erlebt hat.



Frau Waldmann, Sie sind seit Sommer für CARE in der Ukraine, um neue Hilfsprogramme zu entwickeln. Worum geht es dabei?
Lena Waldmann: Es geht um humanitäre Hilfe in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort. In den einzelnen Regionen des Landes gibt es ganz unterschiedliche Bedürfnisse − an den Frontlinien geht es um lebensrettende Maßnahmen, im Westen um die Hilfe für Millionen Binnenflüchtlinge. Unterkünfte, Krankenhäuser, technische Kapazitäten − die große Mehrzahl an Menschen muss versorgt werden. Und dann geht es auch darum, völlig neue Dienste zu etablieren, zum Beispiel psychologische Hilfe für traumatisierte Menschen oder für Frauen und Mädchen, denen im Krieg sexuelle Gewalt angetan wurde.

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Wie reagiert eigentlich Ihr Umfeld darauf, dass Sie freiwillig in der Ukraine arbeiten?
Lena Waldmann: Die meisten haben sich daran gewöhnt, dass ich in Lviv bin. Ich melde mich regelmäßig und versuche auch, meine Familie und Freunde vorzuwarnen, wenn wieder Luftangriffe sind, um auszuschließen, dass sie solche Informationen aus den Nachrichten erhalten. Natürlich machen sie sich Sorgen, wenn ich im Osten des Landes in den Frontgebieten unterwegs bin. Meine Eltern unterstützen mich sehr, aber ich bin mir sicher, sie haben letzte Woche nicht gut geschlafen.

Sie waren gerade im Südosten der Ukraine unterwegs, um sich in den befreiten Gebieten selbst ein Bild zu machen. Was haben Sie erlebt? Wie ist die Lage dort?
Lena Waldmann: Unsere erste Station war Charkiv, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, die ja auch unter massivem Beschuss stand. Wenn man jetzt dort durch die Straßen fährt, wirkt das Leben nicht wie in einer Großstadt. Geschäfte sind vernagelt, es gibt oft keinen Strom, es ist dunkel in der Stadt. In Isjum, das in der Oblast Charkiv liegt, waren viele Häuser zerstört. Auf freien Flächen warnen Schilder vor Minen, man sieht ausgebrannte Autos und Panzer, und dennoch waren viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Man spürte eine Aufbruchstimmung. Die Leute beginnen bereits mit dem Wiederaufbau, reparieren Straßen, räumen Schutt beiseite, obwohl immer noch Raketenangriffe stattfinden. In Sloviansk hingegen waren die Straßen leerer, die Atmosphäre bedrückend. Dort ist die Gefahr noch akuter.

Wie leben die Menschen dort?
Lena Waldmann: Wir waren in einem Dorf, das Teil der Frontlinie war. Dort steht kein einziges Haus mehr, und dennoch leben dort noch Menschen. Sie ziehen in das einzige heile Zimmer der Ruine, sie haben kein frisches Wasser, keinen Strom. Es gibt keine Läden, keine Banken, keine Apotheken, es gibt nichts mehr. Und dennoch wollen sie nicht weg. Diese Resilienz hat mich sehr erstaunt.

Es gibt doch landesweit Evakuierungszüge für Menschen aus den befreiten Gebieten im Osten in Richtung Westukraine. Was haben die Menschen für Beweggründe, in Ruinen zurückzubleiben?
Lena Waldmann: Bei ihnen handelt es sich oft um alte Menschen, die das Ungewisse scheuen. Sie schieben dann Argumente vor wie, dass sie ihre Tiere nicht zurücklassen können. Doch eigentlich sind es andere Ängste. Komme ich jemals wieder zurück? Was erwartet mich? Ich kann das verstehen. Trotzdem versuchen wir sie zu überzeugen, die Evakuierungsangebote zu nutzen. Aber die, die wirklich nicht weggehen wollen, brauchen gerade jetzt im Winter unsere Hilfe.

Wie können Sie mit Ihren lokalen Partnern hier helfen?
Lena Waldmann: Diese Menschen brauchen grundlegende Hilfe. Wir versorgen die Bewohner mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Flaschen. Unsere Ingenieure und Techniker sehen sich die Dörfer an und prüfen, welche Häuser nicht einsturzgefährdet sind und schnell winterdicht gemacht werden können oder ob es Gemeinschaftsräume gibt, die man als Aufwärmstationen nutzen kann. Als wir jetzt vor Ort waren, hatte es minus sieben Grad. Doch die Leute haben uns erzählt, das seien noch milde Temperaturen für diese Jahreszeit. Und der Winter hat gerade erst begonnen.

Welche Erlebnisse oder Begegnungen haben Sie persönlich am meisten beeindruckt?
Lena Waldmann: Zum einen war das ein Treffen mit Freiwilligen aus Charkiv, die in die befreiten Dörfer gehen und den Menschen dort helfen. Eine Frau erzählte mir, dass sie sich seit neun Monaten engagiert und sogar ihren Job aufgegeben hat. Weil sie ihre Wohnung nicht mehr halten konnte, ist sie zurück zu ihren Eltern gezogen. Ich denke, solche Leute brauchen unsere Unterstützung. Da liegen wir mit unserer Strategie, mit lokalen Helfern zusammenzuarbeiten, wirklich richtig.

„Der Ort ihrer Kindheit ist unwiederbringlich zerstört.“

CARE-Helferin Lena Waldmann über den Anblick des komplett zerstörten Dorfes Bohorodychne

Was mich allerdings am meisten mitgenommen hat, war der Anblick des komplett zerstörten Dorfes Bohorodychne. Es stand lange unter Beschuss, weil sich die Frontlinie durch den Ort zog. Es liegt an einem Fluss. Die Brücke, die Zufahrtsstraßen – alles ist zerstört. Man liest und hört die Nachrichten von der Front. Aber das Grauen mit eigenen Augen zu sehen, ist noch mal etwas anderes. Wir standen da auf einer Anhöhe und alle Kollegen hielten für einen Moment lang inne. Mir ging durch den Kopf, dass da nicht nur ein ganzes Dorf ausgelöscht wurde, sondern auch die Geschichten der Menschen, die dort lebten. Für sie alle ist der Ort ihrer Kindheit unwiederbringlich zerstört. Das fand ich so erschreckend.

Der Krieg in der Ukraine wird an Heiligabend genau zehn Monate dauern. Viele Menschen sind es leid, wollen sich am liebsten gar nicht mehr mit den Nachrichten aus der Ukraine auseinandersetzen. Warum sind wir den Menschen weiterhin Hilfe schuldig?
Lea Waldmann: Ich kann es verstehen, dass man nichts mehr lesen und nichts mehr hören will. Das ist ja auch ein gewisser Selbstschutz. Doch die Menschen in der Ukraine sind diesem Leid nun schon so lange ausgesetzt. Jeder ist dort irgendwie betroffen, viele engagieren sich für andere. Die Leute arbeiten ohne Pause, ohne Wochenende, ohne einen Tag Urlaub. Je länger dieser Krieg andauert, umso größer wird das Gefühl des Ausgebranntseins. Die Reserven schwinden, sei es finanziell oder auch psychisch. Selbsthilfe ist oft gar nicht mehr möglich. Deshalb ist es unsere Aufgabe, dran zu bleiben und die Ukrainerinnen und Ukrainer weiter zu unterstützen.