Experten der Stiftung AKM im Gespräch
Wenn das „Willkommen“ zum Abschied wird

Prä- und perinatale Krisenintervention zur Vorbeugung von Traumafolgestörungen – Experten der Stiftung AKM im Gespräch

22.08.2023 | Stand 22.08.2023, 11:00 Uhr

Gemeinsam trauern und sich stützen, ist ein Anliegen, das der Krisendienst RUF24 der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM) fördert. −Foto: lnp

„Ich wünschte, die Familien wüssten, dass sie nicht alleine mit ihrem Schicksal sind“, seufzt Katharina Müller, Psychologin und langjährige Leiterin des Krisendienstes RUF24 der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM). Einsamkeit, Momente wie im falschen Film, aber auch Schuldgefühle plagen Familien, die ihr sehnlichst erwartetes Kind vor, während oder kurz nach der Geburt verlieren.

Auch wenn die offiziellen Statistiken die Zahl der Familien mit derartigen Schicksalen nicht immer korrekt abbilden können, „gibt es eine hohe Dunkelziffer an Sternenkindern“, weiß Katharina Deeg, erfahrene Kinderhospizfachkraft im Zentrum Niederbayern. Doch auch die Daten des statistischen Bundesamtes untermauern diese These. Im Schnitt werden mindestens 4,3 von 1000 Kindern totgeboren. Seit 2007 ist dieser relative Anteil dabei um 24 Prozent gestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2022). Sternenkinder, die bereits vor Beginn der 24. Schwangerschaftswoche verstarben oder das Gewicht von 500 Gramm nicht erreichten, werden in dieser Statistik nicht beachtet.

Individuelle, gangbare Wege

Die Stiftung AKM bietet allen betroffenen Familien Hilfestellung. Dabei unterscheiden sich der Bedarf und Herausforderungen jedoch: Neben Familien, die ein nicht lebensfähiges Kind erwarten oder bereits eine Totgeburt erleben mussten, begleiten die Fachkräfte auch Familien, die während der Schwangerschaft eine lebensbedrohliche oder lebensverkürzende Diagnose erhielten. „In allen Fällen steht aber im Vordergrund, mit den Familien gangbare, individuelle Wege zu erarbeiten“, weiß Katharina Deeg, die bereits viele Betroffene auf diesem schweren Pfad begleitete.

„Der größte Stein, der den Familien nach der Diagnose in den Weg gelegt wird, ist der Zeitdruck. Bei lebensunfähigen Kindern wird oft zu schnell ein möglicher Fetozid thematisiert.“ Deshalb suchen die Fachkräfte der Bereiche RUF24, Kinderhospizarbeit und Therapeutische Kurzintervention teils deutschlandweit nach Optionen, die alle Familienmitglieder beschreiten können. Ein Beispiel hierfür ist der palliative Weg, der eine künstliche Geburtseinleitung ohne Schmerzen für das lebensunfähige Kind bedeutet.

Trauma entsteht durch fehlenden Abschied

„Familien sammeln Existenzbeweise, deshalb ist ein Kennenlernen auch bei Lebensunfähigkeit enorm wichtig“, sind sich Deeg und Müller einig. Das Kind in den Armen halten, Erinnerungen schaffen, die Besonderheiten einprägen, dem Sternenkind einen Namen geben, das Leben des Kindes als solches anzuerkennen, sind Beispiele für entscheidende Eindrücke, denen bei der Trauerverarbeitung große Bedeutung zugeschrieben werden.

„Um Traumafolgestörungen zu verhindern, ist eine frühzeitige Begleitung und damit die Anerkennung der Ausnahmesituation, in der sich betroffene Familien befinden, vonnöten“, stellt Brigitte Schratzenstaller, Leitung RUF24-Niederbayern und Kinderhospizfachkraft, fest. „Zusammen mit den Familien bauen wir so die Scheu ab, mit den verstorbenen Kindern zu interagieren. Der Abschied wird dadurch begreifbarer, für die Eltern, aber auch für Geschwisterkinder.“

Oft erleben die Fachkräfte der Stiftung AKM dabei den Trugschluss, Geschwister möglichst vom Kontakt mit Verstorbenen fernhalten zu wollen. Jedoch zeigt die seit 2004 gewonnene Erfahrung, dass Kinder sehr klar mit derartigen Situationen umzugehen wissen. „Ein Trauma entsteht nicht dadurch, dass man sein totes Geschwisterkind sieht. Vielmehr wirkt es sich traumatisch auf die Psyche von Kindern aus, keinen Abschied nehmen zu können.“ Zu diesem Schluss kommen auch Florian Rauch, Nicole Rinder und Tita Kern in ihrem Buch „Wie Kinder trauern“ (2017).

Hürdenlauf ohne sichtbares Ziel

Doch der Prozess des letztendlichen Abschiedes markiert mitnichten die einzige Hürde, die betroffene Familien auf ihrem Weg zu überspringen haben. „Zunächst geht es auch darum, den Geschwisterkindern altersgerecht zu erklären, dass das erwartete Kind nicht leben wird. Zu erläutern, dass sie sich bislang umsonst auf ein weiteres Geschwisterchen gefreut haben“, beschreitet Katharina Deeg exemplarisch den Weg einer von ihr begleiteten Familie neu. „Auch während der Schwangerschaft den Kontakt zu einem Bestattungsunternehmen aufzunehmen, beziehungsweise sich über das Bestattungsrecht von Sternenkindern zu informieren, ist eine massive Herausforderung.“

„Ich stehe mit meinem Babybauch beim Bestatter und plane die Beerdigung meines Kindes. Es ist skurril und unwirklich, es passt in meinem Kopf nicht zusammen. Ich lerne mein Kind nie kennen, muss mich aber trotzdem verabschieden können“, erklärte eine Mutter im Gespräch mit Katharina Deeg.

Der Hürdenlauf nimmt scheinbar kein Ende. Auch die Phase kurz vor der Geburt, beziehungsweise künstlichen Geburtseinleitung ist eine Zeit der inneren Zerrissenheit für betroffene Paare. Das „Willkommen“ und die Verabschiedung dann gleichzeitig zu begehen, konsolidiert die konträren Gefühlslagen auf diesem langen Pfad nochmals. „Der Moment der Realisierung tritt allerdings teils auch erst beim allerletzten Abschied am Sarg ein, Betroffene brechen zusammen und lassen ihrem Schmerz freien Lauf.“ Katharina Deeg lässt alle Emotionen gewähren, ist als Stütze und Beistand stets greifbar.

„Ich gehe leer nach Hause“

Der Tod, die Verabschiedung, die Beerdigung entlassen die Betroffenen dann wieder zurück ins Leben. Auch der „Weg danach“ benötigt oft Hilfestellung und Begleitung. Speziell im ländlichen Raum zeigt die Erfahrung der Kinderhospizfachkräfte, dass das soziale Umfeld und oder der Arbeitgeber oft kein Verständnis für die enorme Belastung zeigen.

„Ich gehe leer nach Hause. Kann ich eigentlich noch ein Kind bekommen oder will ich es überhaupt nochmal riskieren, diese Gefühlslagen nochmal durchleben zu müssen?“ So berichtet Katharina Deeg von den Fragen, die Mütter ihr stellen.

„Den Alltag neu zu strukturieren und täglich mit seinem eigenen Schicksal klarzukommen, ist die größte Herausforderung nach einer Tot- oder Fehlgeburt“, können Müller, Deeg und Schratzenstaller einhellig bestätigen. Gerade deshalb ist die Nachbetreuung Betroffener so essenziell.