Deggendorf
Leben in Ungewissheit

20-jähriger Afghane kam mit 13 Jahren nach Deggendorf und hofft auf eine Perspektive

16.01.2022 | Stand 22.09.2023, 2:42 Uhr

Ahmed möchte sich in Deggendorf ein Leben aufbauen. −Foto: Heinritz

Gut integriert, aber mit unsicherer Bleibeperspektive und getrennt von seiner Familie – so lebt der 20-jährige Ahmed (Namen von der Redaktion geändert) in Deggendorf.

Er träumt von den gleichen Dingen wie die meisten jungen Leute: sicherer Job, Familie, Auto – einer guten Zukunft in Deutschland.

Ahmed ist mit 13 Jahren von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Mit seinem älteren Cousin kam er im Juli 2015 in den Landkreis. Die Taliban hatten gedroht, sie zwangsweise zu rekrutieren. Die ersten Jahre lebten beide in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hengersberg. Ahmed lernte Deutsch und besuchte die Mittelschule. In seinem letzten Schuljahr musste er nach Forchheim umziehen und beendete dort die Schule.

Im Herbst 2019 kehrte Ahmed wieder nach Deggendorf zurück. Er suchte sich eine Lehrstelle als Lagerist in einem Möbelgeschäft, um wieder in der Nähe seines Cousins und seiner Freunde zu sein. Nach der Ausbildung übernahm er Minijobs, bis er vor einigen Monaten bei einer Firma in Pankofen eine Anstellung als Produktionshelfer bekam. Seine Familie, die vor den Taliban in den Iran flüchtete, fehlt ihm sehr. Sein Antrag auf Familiennachzug wurde kurz vor seinem 18. Geburtstag abgelehnt. Der Förderverein Pro Asyl weist darauf hin, dass tausende Flüchtlingsfamilien aus Afghanistan, Syrien und Eritrea unter einer erzwungenen Trennung leiden, obwohl ihnen der Familiennachzug rechtlich zusteht.

Das Auswärtige Amt stellt auf seiner Homepage klar: "Sofern sich noch kein personensorgeberechtigter Elternteil in Deutschland befindet, haben Eltern von minderjährigen Ausländern einen privilegierten Anspruch auf Familiennachzug. Das bedeutet, dass auf bestimmte Voraussetzungen wie etwa die Sicherung des Lebensunterhalts verzichtet werden kann. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für ein Visum zum Familiennachzug, wie z.B. der Nachweis der Identität und der Verwandtschaftsbeziehung, müssen aber erfüllt sein. Wichtig: Der Anspruch der Eltern auf Einreise erlischt am 18. Geburtstag des in Deutschland lebenden Kindes unwiderruflich."

Fast eineinhalb Jahre musste Ahmed auf die Anhörung für seinen Asylantrag warten. Seinen Bescheid mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erhielt er im Februar 2017. Um ein Visum auf Familiennachzug beantragen zu können, musste seine Familie zur Deutschen Botschaft nach Islamabad reisen, die in Kabul war schon geschlossen. Erst ein Jahr nach dem Antrag konnte die Familie nach Pakistan einreisen. Dann musste sie noch eine Abstammungsanalyse einreichen, die mittels eines DNA-Tests durchgeführt wurde. Das war am 16. Oktober 2019.

Erst am 23. Dezember 2019, kurz vor Ahmeds 18. Geburtstag am 1. Januar 2020, teilte die zuständige Ausländerbehörde in Deggendorf auf telefonische Nachfrage mit, dass sie kurz zuvor eine Ablehnung versendet habe. Der Förderverein Pro Asyl, der sich um den Fall des jungen Afghanen kümmert, vermutet hinter der Verzögerung Absicht. "Warum die Ausländerbehörde trotz der vielfachen Bitten der Vormundin sowie mehrfachen Aufforderungen von Botschaftsmitarbeiter*innen so spät eine Stellungnahme abgab, ist unverständlich. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Familiennachzug möglicherweise bewusst vereitelt wurde. Auch die Gründe für die Ablehnung sind unklar," kritisierten die Helfer von Pro Asyl. Ähnlich sieht das Heidi Müller, die in Forchheim etliche Flüchtlinge als Vormund bei der AWO betreut, darunter auch Ahmed. Sie erhielt die Nachricht der Botschaft, dass eine Erteilung des Visums für Ahmeds Angehörige mit seiner Volljährigkeit nicht mehr möglich sei und empfohlen werde, die Entscheidung bis zu einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu dieser Thematik auszusetzen. Darin geht es um die Frage, ob der Zeitpunkt der Antragstellung oder der Entscheidung über den Antrag beim Familiennachzug gelten soll.

Den Antrag auf Familiennachzug hatte Heidi Müller in Forchheim gestellt. Mit Ahmeds Rückkehr nach Deggendorf wurde das hiesige Ausländeramt zuständig. Trotz Anrufen und persönlicher Vorsprache bei der Ausländerbehörde am Deggendorfer Landratsamt konnte sie die Entscheidung nicht beschleunigen. "Ich bin in Deggendorf gegen Wände gerannt," schildert sie. Die Begründung für die Ablehnung lautete, dass Ahmed seine Eltern so kurz vor der Volljährigkeit nicht mehr brauche, berichtet sie.

Der Pressesprecher des Landratsamts, Oliver Menacher, verweist in einer Stellungnahme darauf, dass der Fall vom Landratsamt Forchheim erst im November 2019 an die Deggendorfer Ausländerbehörde weitergeleitet wurde und eine genaue und zeitintensive Sachbearbeitung erfolgte. Geprüft werden musste unter anderem, ob für die Familie bei einer Einreise nach Deutschland ausreichend Wohnraum zur Verfügung stünde und ob der Lebensunterhalt gesichert werden könne.

Seit seiner Volljährigkeit ist Heidi Müller nicht mehr Ahmeds Vormundin. Trotzdem hält sie weiterhin Kontakt zu ihrem Schützling. Der hat inzwischen ein weiteres Problem: sein Flüchtlingsstatus wurde im Rahmen einer Regelüberprüfung aberkannt. Im Sommer 2021 hat er seine Familie im Iran besucht. Zum ersten Mal nach mehr als sieben Jahren sah er seine Eltern und seine Geschwister wieder. "Es war wie ein Traum", schildert er.

Während seiner Abwesenheit landete ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg in seinem Briefkasten, in dem seine Klage gegen den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wurde. Wegen Ahmeds Abwesenheit verstrich die vierwöchige Einspruchsfrist gegen das Urteil. Was den 20-Jährigen besonders wurmt: Er hatte das Ankerzentrum schriftlich und telefonisch auf seine Abwesenheit aufmerksam gemacht.
Christoph Sander, Pressesprecher beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, erläutert, dass es nach aktuell geltender Rechtslage zwei Gründe für ein Widerrufsverfahren gibt: eine anlassbezogene und eine Regelüberprüfung, bei der nach drei Jahren geprüft werde, ob die Voraussetzungen für den Schutz noch vorliegen oder ob sich die Situation in einem Land verbessert hat. Wie im Asylverfahren handele es sich dabei um eine Einzelfallprüfung.
Im Ablehnungsbescheid vom 16. Juli 2021 wurde auf die Volljährigkeit des Flüchtlings und inländische Fluchtalternativen im Heimatland verwiesen. Die Klage gegen die Entscheidung wurde abgewiesen, eine Berufung hielt der Anwalt für wenig erfolgversprechend. Stattdessen stellte Ahmed einen Folgeantrag und hofft, dass er wieder als Flüchtling anerkannt wird.
Ein Folgeantrag liegt laut Christoph Sander vor, wenn die betroffene Person nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt. "In diesem Verfahren ist ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn bestimmte Voraussetzungen, die sogenannten Wiederaufgreifensgründe, vorliegen. Hierzu zählen beispielsweise eine erhebliche Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland oder aber es liegen neue Beweise vor, die bei einer Rückkehr der betroffenen Person in ihr Herkunftsland zu ihrer Gefährdung führen könnten. Nur in diesem Fall erfolgt eine erneute inhaltliche Prüfung wie bei einem Erstantrag."
Rund einen Monat nach dem Ablehnungsbescheid zogen sich die westlichen Streitkräfte aus Afghanistan zurück, die Taliban übernahmen die Herrschaft im Land. Wie viele andere hofft Ahmed auf eine andere Flüchtlingspolitik nach dem Regierungswechsel in Berlin und eine Perspektive in dem Land, in dem er seit seinem 13. Lebensjahr lebt.

− she