Schauspiel-Premiere
Eine weise Frau namens Nathan: Lessing bei den Salzburger Festspielen

31.07.2023 | Stand 13.09.2023, 2:15 Uhr

Vier Stunden Düsternis: Valery Tscheplanowa als Nathan inmitten des Chores. −Foto: Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

Es ist ein Plädoyer für religiöse Toleranz aus dem Blickwinkel der Aufklärung: Lessings Dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ aus dem Jahr 1779, das in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge im 12. Jahrhundert spielt. Der Dialog zwischen Christentum, Islam und Judentum, basierend auf Vernunft und Humanität, war schon zu Lessings Zeiten und mehr noch heute ein schöner Wunschgedanke. Die Botschaft des Stücks, so idealistisch sie auch sein mag, ist heute wichtiger denn je.

Angenehmerweise nähert sich Regisseur Ulrich Rasche dem Stück in seiner Neuinszenierung für die Salzburger Festspiele 2023 weder mit erhobenem Zeigefinger noch durch Aktualisierungen: Er setzt rein auf die Stärke der Sprache Lessings, unterlegt mit Klängen eines Percussion-Ensembles (Komposition: Nico van Wersch). Der stetige Rhythmus treibt die Handelnden ebenso an wie die drei Scheiben der Drehbühne, die unterschiedlich rotieren und gegen die angegangen werden muss. Das hält die Körper auf der Bühne in ständiger, beinahe athletischer Hochspannung – über fast vier Stunden Spieldauer.

Unerbittlich deutlich werden Lessings Worte skandiert, intensiv verstärkt durch die für Rasche typische Idee, einzelne (christliche) Nebenfiguren zu einem Chor zusammenzufassen. Dieser Chor treibt an, bedrängt, kommentiert. Rasche bindet hier fremde Texte von Kant, Voltaire und Johann Gottlieb Fichte ein: Toleranzgedanken, hinter denen nicht selten ein fragwürdiger Absolutheitsanspruch lauert, aber auch ein erschreckender Antisemitismus. Viel Stoff zum Nachdenken.

An der Decke aufgehängte, drehbare Säulen schaffen intime bis große Lichträume im Halbdunkel der einstigen Salinenhalle auf der Pernerinsel in Hallein, die höchst ausgeklügelt eingesetzt werden. Mit all diesen Stilmitteln schafft Rasche seinen eigenen Kosmos. Einen, der starke Sogwirkung ausübt. Das fesselt und fordert manche so sehr, dass sie in der Pause die Flucht ergreifen.

Während Lessing den Konflikt am Schluss in neue Familienverhältnisse auflöst (indem Figuren untereinander verwandt sind) löst Rasche die engen Zuordnungen der Personen schon von Anfang an auf. Nicht nur in chorische Gefüge und im Einheits-Schwarz der ästhetisch-schlichten Kostüme (Sara Schwartz), sondern auch durch atypische Rollenbesetzungen. Valery Tscheplanowa als Nathan ist nicht abgeklärt weise, sondern bedroht vom Antisemitismus und menschlich groß trotz des erlittenen Verlusts der Familie. Mit tänzerischer Körperbeherrschung bewahrt sie Haltung, verströmt Stärke und Strahlkraft, gibt diesem Nathan aber zudem zarte und verletzliche Seiten.

Ein Abend, der unter die Haut geht und ästhetisch wie inhaltlich einen der ersten Festspielhöhepunkte in Salzburg darstellt.

Barbara Angerer-Winterstetter