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1200 Demonstranten auf Reichenhaller Rathausplatz bekennen Farbe gegen rechten Hass

Kaniber greift AfD frontal an - Breites Bündnis für eine weltoffene Gesellschaft

04.02.2024 | Stand 05.02.2024, 14:05 Uhr

Am oberen Ende des Rathausplatzes in Richtung der Alten Saline ist die Bühne auf einem Lkw aufgebaut.  − Fotos: Max Klapper

„Mit Rechtsaußen ging’s schon einmal in den Abgrund“, „Aus der Geschichte lernen: Nie wieder“, „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragt eure Großeltern oder lest in den Geschichtsbüchern“, „Menschenrechte statt rechte Menschen“, „Bunte Vielfalt statt Braune Einfalt“. Die Botschaft, die vom Reichenhaller Rathausplatz am Sonntagnachmittag ausging, war deutlich: Nie wieder ist jetzt. Zu Klängen der Beatles mit „All you need is love“ oder John Lennons „Imagine“ – als Hymnen für den Frieden – entwickelte sich eine friedliche Demonstration „Gegen rechten Hass und für eine weltoffene Gesellschaft“.



Kein Hass, keine Hetze gegen irgendwen, wünscht sich Johann Schubert, als er kurz nach 14 Uhr auf die Bühne am Ostende des Rathausplatzes steigt und die ersten Worte ins Mikrofon spricht. Er schaut in viele Augen, auf viele Plakate: „Herz statt Hetze“ sieht er dort geschrieben. Der Ortsvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt hatte mit zahlreichen Verbänden, Stadtratsfraktionen, Vereinen, katholischer und evangelisch-lutherischer Kirchengemeinde zur Demonstration am Sonntagnachmittag aufgerufen. Angemeldet waren 200 Leute, die Polizei rechnete mit 500. Aus dem ganzen Berchtesgadener Land und über die Grenzen hinaus sind die Menschen nach Bad Reichenhall geströmt. Schließlich sind es etwa 1200, schätzt die Polizei, nachdem sie sich vom oberen Stockwerk des Neuen Rathauses einen Überblick verschafft hat.

Kaniber: „Ich bin auch keine ,Biodeutsche‘“



Offen spricht Stimmkreisabgeordnete und Staatsministerin Michaela Kaniber in ihrem Grußwort an, wen sie für die Verrohung des politischen Klimas verantwortlich macht. Die AfD. Verhaftungen würden zum Politikum gemacht. Wie berichtet, wird dem AfD-Landtagsabgeordneten Daniel Halemba Volksverhetzung vorgeworfen. In Geheimtreffen wie in Potsdam werde von „Remigration“ gesprochen.

„Ich bin auch keine ,Biodeutsche‘“, sagt Kaniber. Ihr Eltern kamen Anfang der 1970er-Jahre als Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Deutschland. Heute fragen sie ihre drei Töchter, ob sie auch gemeint sind, ob sie auch remigrieren müssten. Kaniber wendet sich gegen das Vergessen, ist entsetzt, dass es so leicht möglich ist und ruft deshalb dazu auf, die erweiterte Dokumentation Obersalzberg zu besuchen. Für die habe man gemeinsam gekämpft, nimmt sie Altlandrat Georg Grabner, den stellvertretenden Landrat Michael Koller und Bezirksrat Georg Wetzelsperger mit ins Boot, die ebenfalls anwesend sind. „Wenn Demokraten zusammenhalten, haben die Extremisten keine Chance“, ist sich Michaela Kaniber sicher und erntet dafür den Applaus der Zuhörer.

NSDAP kam auch nicht aus dem Nichts



Dr. Mathias Irlinger, Mitarbeiter der Dokumentation Obersalzberg, setzt dann auch die aktuellen Ereignisse in einen geschichtlichen Kontext. Warum ist „nie wieder ist jetzt“ so aktuell? Die NSDAP kam nicht 1933 aus dem Nichts, sagt er. Jahre zuvor hatte sich die Partei gegründet, gewann bis zu sogenannten „Machtergreifung“ keine absolute Mehrheit in Deutschland. Doch bis sich der Widerstand formierte, war sie kaum noch aufzuhalten.

Als Hauptredner spricht Hausherr Dr. Christoph Lung. „Die Bedrohungen von Außen und von Innen haben in einem Maße zugenommen, das wir nicht für möglich gehalten hätten“, sagt Reichenhalls Oberbürgermeister.

„Wir müssen wieder streiten lernen“



„Es muss uns alle herausfordern, wenn ganz ungeniert über die massenhafte Deportation von Menschen fantasiert wird, wenn böswillig gegen ,Altparteien‘ gehetzt und von einem neuen Totalitarismus geträumt wird und wenn ganz offen gefordert wird, die Europäische Union müsse sterben oder Deutschland jedenfalls austreten. Es gibt kein Glück im stillen Winkel mehr. Wir sind gefordert“, stellt Lung fest und macht drei Vorschläge:

„Wir müssen wieder streiten lernen“: Es braucht eine positive Streitkultur, dass man unterschiedliche Positionen austauschen kann, ohne sein Gegenüber als Gegner oder als persönlichen Feind zu betrachten. Lung bittet, bei der nächsten Diskussion mehr persönliche Wertschätzung zu transportieren, sich auf die sachliche Eben zu konzentrieren und Brücken zu bauen.

„Wir müssen Toleranz leben“: Toleranz darf nicht verwechselt werden mit Indifferenz, Gleichgültigkeit oder damit, alles irgendwie gut zu finden. Toleranz wird erst immer da notwendig, wo im Grunde etwas nicht gut gefunden wird, wo jemand anders ist, wo sich jemand etwas anders verhält. Aber und das ist das Entscheidende: Wo immer Toleranz waltet, gibt es eben mehr gute Gründe, das nicht-für-gut-befundene Verhalten trotzdem zu akzeptieren.

Lung: „Toleranz kann nicht grenzenlos sein“



„Wir müssen lernen, intolerant gegenüber Intoleranz zu sein“: Wenn Weltoffenheit erhalten werden soll, kann Toleranz nicht grenzenlos sein. „Wir müssen denjenigen, die sich intolerant verhalten, selbst klar entgegentreten und Grenzen setzen.“ Lung gibt deshalb einen Auftrag mit: „Wenn jemand Verschwörungstheorien verbreitet, widersprechen Sie bitte klar und deutlich. Wann immer jemand Hass sät, lassen Sie ihn ihren Widerspruch ernten. Gehen Sie zur Wahl, beteiligen Sie sich und geben Sie bei allen Wahlen ihre Stimme ab – und zwar für eine demokratische Kraft.“

Zum Abschluss zitierte Lung – wie viele Plakate auch – den KZ-Überlebenden Max Mannheimer: „Ihr seid nicht für das verantwortlich, was geschehen ist. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Ein Durchkommen in den vorderen Reihen? Zeitweise nur mit einer Entschuldigung und sich Durchschieben möglich. Erst ab dem Wittelsbacherbrunnen in Richtung Altes Rathaus lichten sich die Reihen.

Nach etwas mehr als einer Stunde und abschließenden Worten von AWO-Kreisvorsitzendem Roman Niederberger, endet die Veranstaltung.