Wie Herr Piefke zu seinem Ruf kam

Ein Schritt über die Grenze und selbst Bayern mutieren zu „Piefkes“ − Wieso, das lehrt die „Kulturgeschichte einer Beschimpfung“

03.01.2011 | Stand 03.01.2011, 5:00 Uhr

 Der deutsche Papst lächelt gütig von Wiener Plakaten, segnend. Darunter steht: „Dein Boss ist Piefke? Kirchenaustritt! Jetzt.“ Im EU-Parlament sprach vor einiger Zeit ein deutscher Abgeordneter, da ertönte es lautstark aus dem Plenum: „Halt die Klappe, arroganter Piefke!“ Die Dolmetscher waren ratlos bei der Übersetzung in die Amtssprachen der Gemeinschaft. 1937 hörte der britische Geheimdienst in London einen österreichischen Diplomaten laut fluchen: „Das war wieder der verdammte Piefke in Berlin!“, worauf der Secret Service Ihrer Majestät in Berlin verdeckt zu ermitteln begann. Ohne Erfolg. Es gab einfach zu viele Piefke.
 Den Piefke gab es damals schon lange, literarisch und aus Fleisch und Blut. Wer sich darüber amüsant und durchaus gelehrt zugleich belesen will, der ist mit Hubertus Godeysens „Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung“ bestens bedient.
Laut und arrogant, ob Tourist oder Gastarbeiter Zunächst war „Piefke“ der typisch berlinische Name einiger komischer Figuren in humoristischen Zeitschriften und Theaterstücken im Spree-Athen und im Wien des 19. Jahrhunderts, die Karikatur eines – gelegentlich gegen die Obrigkeit rebellischen − kleinbürgerlichen Spießers, bekannt gemacht vor allem durch den vielschreibenden Satiriker Adolf Glassbrenner (Eigenbezeichnung: „Brennglas“). Der großdeutsch gesinnte österreichische Dichter Robert Hamerling lässt in seinem Lustspiel „Teut“ (1872) einen Piefke ausrufen: „Norddeutsche Intellijenz! Gruppiere dir um Piefke! Auf zum Kampf gegen die Barbarei . . . jenseits des Mains!“ Am Ende sind aber alle Deutschen trunken und versöhnt.
 In der Anschluss-Zeit war in der „Ostmark“ der Gebrauch des Wortes als Beleidigung strafbar: 70 Reichsmark Geldbuße bis hin zu sieben Monaten Gefängnis. Am schlimmsten aber erging es dem Piefke kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als offener Hass gegen die „Piefkebagasch“ ausbrach. 246 000 Reichsdeutsche wurden sofort ausgewiesen, etliche innerhalb achtundvierzig Stunden mit nur 30 Kilo Gepäck. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt. Lebensmittelmarken für die Zurückgebliebenen gab es nicht, ihre Wohnungen wurden fristlos gekündigt, nicht wenige auf offener Straße angespuckt.
 War der Piefke also zunächst eine „Comic“-Figur, dann eine Metapher für alles Laute, Arrogante, Preußische, eben für Pickelhaube und Stahlhelm und dann Braunhemd, so ist er es eben heute für den Touristen oder „Gastarbeiter“, wie der Österreicher noch immer sagt. Die Koseform, beliebt bei Studenten, die die Numerus clausus-Flüchtlinge vehement ablehnen, ist immerhin „Scheipi“, „Scheißpiefke“. Allerdings hat der Wiener Oberbürgermeister Zilk am 3. Oktober 1990 aus Sympathie, Mitfreude und Solidarität am Wiener Rathaus Schwarz-Rot-Gold aufziehen lassen.
 Einige Jahrzehnte lang wusste man aber in Deutschland und Österreich genau: Johann Gottfried Piefke wurde am 9. September 1815 im preußischen Wartheland als Sohn eines Organisten geboren, starb nach mehr als 45 Jahren im Dienst als Militärkapellmeister (nie in Pension gegangen) des 1. Brandenburgischen Leibgrenadierregiments König Friedrich Wilhelm III. Nr. 8 in Frankfurt an der Oder. Seine Musik erklingt bei der Steuben-Parade in New York und auf Schiffen der Bundesmarine vor Somalia oder in Afghanistans Bundeswehrlagern. Der weltbekannte Marsch „Preußens Gloria“ stammt von ihm. Die Nationale Volksarmee der DDR durfte ihn nicht spielen. Wohl aber – und da schließt sich der Kreis der österreichischen Piefke-Ablehnung – den Triumphmarsch des Siegers über Österreich vom 3. Juli 1866 in Böhmen, den „Königgrätzer Marsch“.
 Und da hat Gottfried Piefke ein wenig in die Weltgeschichte eingegriffen: Zu Mittag des Schlachttages war man auf dem preußischen Feldherrenhügel schon etwas verzagt. Wilhelm I., Bismarck und Moltke warteten angespannt auf die Verstärkung am Horizont, die kriegsentscheidenden Armee des Kronprinzen. König Wilhelm sank der Mut. Da marschierte Piefkes Musikcorps nach vorne, und kaum sieht er seinen König auf der Anhöhe, lässt er mit vollster Wucht das „Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands!“ schmettern. Wilhelm lässt Piefke rufen und richtet das Wort an ihn, gerührt und gestärkt: „Das vergesse ich Ihnen nicht, solange ich lebe.“
 Persönlich war der Mann nicht „piefkinesisch“. Er war mutig, tapfer, selbstbewusst, aber bescheiden, freundlich, gänzlich unarrogant. Und – Ironie der Geschichte – durch Einführung des Euphoniums (des Bassflügelhorns) und des Kornetts in die Militärmusik bringt er eine füllige, weiche, wenn man will „österreichische“ Klangfarbe in die Militärmusik hinein – gegen die preußische „rohe“ Zackigkeit.
Ein rostendes Denkmal für das „Feindbild“ Insgesamt gibt sich der 1949 geborene Niedersachse und begeisterte Preuße Hubertus Godeysen in seinem lesenswerten Buch vielleicht ein bisschen zu empfindlich gegenüber den „Piefke“-Sprüchen, zu schnell pikiert, manchmal gar empört. Er lebt allerdings in Wien und nicht in Kärnten, wo die Einheimischen sich ja vielfach noch selbst als Deutsche bezeichnen. Heute wird aber auch unterm Stephansdom das Wort oft schon ironisch, ja selbstironisch gebraucht. Im niederösterreichischen Gänserndorf steht jetzt ein – schnell rostendes – Piefke-Denkmal, von schmunzelnden Touristikern aufgestellt, und in der Sonntagsausgabe der Wiener „Presse“ erscheint regelmäßig die liebenswerte heiter- (selbst-)ironische Glosse „Diese Deutschen!“ – von einem leibhaftigen Piefke.Peter Meier-BergfeldHubertus Godeysen: Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung. Va Bene, 280 S., 24,80 Euro.