PNP-Spendenaktion
Entwicklungsminister Gerd Müller: "So sollte kein Leben beginnen"

19.12.2020 | Stand 19.09.2023, 20:08 Uhr
Philipp Hedemann

"Babys werden in nassen Zelten von Ratten gebissen. Das sind entsetzliche Zustände - mitten in Europa", sagt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU). Der PNP und ihren Lesern dankt er für die Weihnachtsaktion. "Dieses humanitäre Engagement ist in Corona-Zeiten wichtiger denn je!" −Foto: Janine Schmitz/photothek

Warum die Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern sich weiter verschlechtert haben, erklärt Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller (CSU) im PNP-Interview.

Herr Müller, Sie haben im Oktober 2018 das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Welchen Eindruck hatten Sie?
Gerd Müller: Ich war schockiert, als ich gesehen habe, wie Zehntausende Menschen in einem Lager eingepfercht leben, das für 3000 geplant war. Es fehlte an Sanitär- und Gesundheitsversorgung. Ich habe Flüchtlingscamps im Nordirak und Südsudan besucht. Nirgendwo herrschten solch schlimme Zustände wie auf Lesbos. Das neue Lager Kara Tepe ist offensichtlich nicht besser - im Gegenteil: "Ärzte ohne Grenzen" musste jetzt eine Tetanus-Impfaktion starten, weil Babys in nassen Zelten von Ratten gebissen werden. Das sind entsetzliche Zustände - mitten in Europa. Und die härtesten Winterwochen stehen den Flüchtlingen noch bevor.

Wie ging es den Kindern im Lager? Wächst in den Flüchtlingslagern eine verlorene Generation heran?
Gerd Müller: Besonders schlimm ist es für die Kinder, die in Moria auf die Welt kommen. Ich habe mit auf der Flucht vergewaltigten afrikanischen Frauen gesprochen, die auf dem nackten Boden saßen und auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Ohne Hygiene oder ärztliche Versorgung. So sollte kein Leben beginnen. Ein weiteres Problem ist, dass die Anerkennungsverfahren vor Ort viel zu lange dauern. Die größeren Kinder haben so kaum Möglichkeiten zur Schule zu gehen. Wenn sich das nicht ändert, wächst hier mitten in Europa eine verlorene Generation auf.

Im September 2020 sollen verzweifelte Flüchtlinge das Lager in Brand gesteckt haben, Moria brannte fast vollständig ab. Hat die Katastrophe Sie überrascht?
Müller: Ich war erschüttert, aber die Katastrophe war absehbar. Schon vor zwei Jahren habe ich die EU-Kommission auf die dramatischen Zustände hingewiesen, doch passiert ist nichts. Dann kam Covid-19. Die Menschen waren verzweifelt in der Enge, mit den unhaltbaren hygienischen Zuständen, und es kam zur Panik. Alle gingen davon aus, dass die schrecklichen Zustände nach dem Brand verbessert werden, aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus.

Deutschland hat nach dem Brand zugesagt, 1553 Menschen aus Moria aufzunehmen. Sie hatten zuvor gefordert, 2000 Flüchtlinge nach Deutschland zu holen.
Müller: In solchen Situationen geht es um Mitmenschlichkeit. Ich trete für Ordnung und Recht ein, aber auch für Humanität. Wichtig ist, dass dem Menschen geholfen wird, allen voran den Kindern. Aber nicht so, dass wir fünf Jahre diskutieren, wo sie hinkommen. Moria erinnert uns daran, dass wir die grundsätzlichen Fragen europäischer Asylpolitik endlich umsetzen müssen.

Reicht das? Müssen wir uns nicht auch mehr in den Herkunftsländern engagieren?
Müller: Absolut. Wir lösen die Flüchtlingsprobleme nicht in den Lagern oder bei uns in Deutschland, sondern nur vor Ort in den Entwicklungsländern. Die Menschen kommen ja nicht ohne Grund. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie heute, 80 Millionen. Sie fliehen vor Krieg, Elend oder weil sie ihre Lebensgrundlage wegen des Klimawandels verloren haben. Die EU-Außengrenzen besser zu schützen ist richtig. Aber auch die zweite Säule muss verstärkt werden: Investitionen in den Herkunftsländern. Europa muss an den Ursachen ansetzen. Nur wenn sich ihre Perspektiven in der Heimat verbessern, werden Flüchtlinge den gefährlichen Weg nach Europa nicht mehr auf sich nehmen. Ich halte es daher geradezu für fatal, dass die EU-Mittel für Afrika die nächsten sieben Jahre gekürzt werden.

Bei der Aktion "Ein Licht im Advent" spenden die Leser der Passauer Neuen Presse für die Arbeit von UNICEF in den griechischen Flüchtlingslagern.
Müller: Ich kenne die Aktion seit Jahren! Ich möchte den Leserinnen und Leser für ihre große Hilfsbereitschaft danken. Wie auch den vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich tagtäglich unter schwierigsten Bedingungen weltweit engagieren. Organisationen wie UNICEF sind oftmals die letzte Rettungsstation für Millionen Menschen in den Krisen- und Konfliktgebieten! Dieses humanitäre Engagement ist in Corona-Zeiten wichtiger denn je! 130 Millionen Menschen fallen weltweit durch die Coronakrise in Hunger und bittere Armut zurück. Weil Versorgungsketten zusammengebrochen sind, Nahrung und Medikamente nicht mehr ankommen. Kinder in den Flüchtlingslagern leiden darunter am meisten - und es ist unsere Verantwortung, ihnen eine faire Chance auf Sicherheit, Gesundheit und Bildung zu geben. Dazu leistet UNICEF unglaublich wertvolle Arbeit.