Gedenken ans Kriegsende
"An einem 8. Mai in Deutschland" – Gastbeitrag des KZ-Überlebenden Shlomo Graber

08.05.2018 | Stand 08.05.2018, 6:06 Uhr

"Schon bald werde ich 92 Jahre alt – und das ist in meinem Fall mehr als erstaunlich." – Shlomo Graber. − Foto: pivat

Schon bald werde ich 92 Jahre alt – und das ist in meinem Fall mehr als erstaunlich.

Als ich am 8. Mai 1945, genau am Tag des Kriegendes aus dem KZ Görlitz befreit wurde, hatte ich drei Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebt. Ich war bis auf meine Knochen abgemagert und an jenem 8. Mai vor bald 73 Jahren (ich war damals 18 Jahre alt) hätte ich mir nie erträumt, dass ich je diese Zeilen zu Papier bringen würde. Und schon gar nie hätte ich zu hoffen gewagt, eines Tages selbst eine große Familie mit Enkeln und Urenkeln mein eigen nennen zu dürfen und zu allerletzt wäre es mir in jenem Augenblick in den Sinn gekommen, dass ich eines Tages meine Geschichte in Büchern und Vorträgen der Nachwelt, und ganz besonders der deutschen Jugend von heute, würde erzählen können.

Damals, am 8. Mai 1945, als ich befreit wurde, hatte ich allen Grund die Deutschen pauschal zu hassen – aber ich tat es nicht. Ganz im Gegenteil: unmittelbar nach meiner Befreiung teilte ich mit einer jungen deutschen Mutter und ihrem Kleinkind mein letztes Stück Brot das ich auf mir trug. Die junge Frau war vielleicht sogar ein Nazi, das wäre durchaus möglich gewesen, doch das kümmerte mich in jenem Augenblick nicht - ich wollte einfach nicht wie die Nazis sein und jemanden hassen der mir nichts getan hatte.
Und so habe ich es auch die letzten 73 Jahre seit meiner Befreiung gehalten: jemanden zu verachten oder gar zu hassen der dir nichts getan hat, ist immer grundlegend falsch. Genauso falsch ist es, dass die Deutschen sich heute noch Vorwürfe machen müssten für das was ihre Vorväter verbrochen hatten. Ich habe viele Vorträge an deutschen Schulen gehalten und eines kann ich mit Bestimmtheit sagen: die heutige deutsche Generation, und vor allen die heutige deutsche Jugend hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, absolut nichts mehr mit den Faschisten und Nazis von damals gemein.

Die Welt hat sich seit damals verändert. Vieles ist besser geworden – aber manches auch nicht, Denn wenn mich jemand vor ein paar Jahren gefragt hätte, wie ich die Lage der Welt beurteilen würde, dann hätte ich folgendermaßen geantwortet: Wir haben vieles erreicht im Laufe der Zeit. Die Gleichberechtigung der Frau, die Freiheit zu reisen, wohin wir wollen. Die Farbigen haben ihre Rechte weitgehend erhalten, wie zum Beispiel in Südafrika, und selbst die USA hatten ihren ersten farbigen Präsidenten - was vor zwanzig Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Der freie Handel und die damit einhergehende Globalisierung mehren den Wohlstand der Menschen. Der Kommunismus ist gescheitert und der Antisemitismus ist weitgehend eliminiert. Europa wächst immer weiter zusammen, wenn es dabei auch immer wieder zu Diskussionen zwischen den einzelnen Ländern kommt. Dennoch trägt das europäische Projekt dazu bei Nationalismus, Protektionismus und die daraus resultieren Gefahren eines Wiederaufflammens extremen Gedankenguts und menschenverachtenden (bis hin zu faschistischen) Tendenzen einzudämmen oder zumindest in Schach zu halten. Zudem hat der technologische Wandel und die damit verbunden sozialen Medien es den Menschen ermöglicht immer mehr zusammen zu wachsen, sich zu informieren, zu kommunizieren und dadurch die Grundwerte wie Demokratie und Freiheit in die entlegensten Winkel der Erde zu tragen.

Genau so, hätte ich vor wenigen Jahren geantwortet. Doch wenn mich heute, im März 2018, jemand dieselbe Frage stellen würde, wäre meine Antwort leider eine ganz andere, denn die Welt steht kurz vor dem Scheitern - und Schuld an all dem ist aus meiner Sicht der Dinge der Kapitalismus! Und ich meine damit jene Art von "Raubtierkapitalismus" der sich verselbstständigt hat und sich wie ein unheilbarer Virus in die Köpfe der Menschen eingenistet hat. Und die Folgen sind fatal: Das Profitdenken ist die oberste Maxime, die Menschlichkeit bleibt weitgehend auf der Strecke. Dies gilt für alle Gesellschaften, unabhängig von deren Religion oder Hautfarbe. In Tat und Wahrheit haben wir keine wirkliche Demokratie mehr, denn die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Der Mensch ist kein Mensch mehr, sondern ein Werkzeug der Eliten, die an der politischen oder wirtschaftlichen Macht sind und die die einzigen Gewinner des ungezügelten Kapitalismus und der entfesselnden Globalisierung sind. Es sind, anders kann ich es nicht sagen, diese Eliten die statt das Verantwortungsgefühlt eines "Patrons" zu tragen, sich um den Rest der Gesellschaft einen Dreck scheren und die nicht nur unbeschädigt und unbehelligt aus der Finanzkrise gekommen sind, sondern sich, als wäre nichts gewesen, weiter schamlos auf Kosten der Gesellschaft bereichern.

Speziell die Globalisierung hat sich von einem Segen in ein Monstrum gewandelt. In vielen Ländern müssen die Leute unter Bedingungen und zu Löhnen arbeiten, die menschenunwürdig sind und die Kinderarbeit ist noch gang und gäbe. Der Mittelstand schwindet immer mehr und genau dies führt zu einer rasant wachsenden Unzufriedenheit von ganz normalen Menschen wie du und ich. Und das allerschlimmste ist es, dass die politischen Eliten der Länder den Kontakt zu ihren Bürgern und zu deren Sorgen und Ängste scheinbar komplett verloren haben.

Manchmal habe ich Angst, dass es eines Tages zu einer Revolution gegen den Kapitalismus kommt, oder gar schlimmer; dass sich bald schon "starke Männer" nicht nur als Politiker sondern "Führer" und "Heilbringer" gegen alle Unbill dieser Welt anbieten werden. Und dies macht mir am meisten Angst, denn immer öfter fühle ich mich zurückversetzt in meine Jugendzeit – in jene unheilvolle Zeit, als ein kleiner Mann mit Schnauzer, genau diese Rolle des Heilsbringer dem deutschen Volk antrug und dessen Ausgang wir alle kennen.

Aber zurück zum Kapitalismus: Es darf doch nicht sein, dass ein minimaler Prozentsatz der Bevölkerung Milliarden hortet, während in der Welt noch alle paar Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Ich verstehe nicht, was die Reichen zu ihrer Gier antreibt, immer noch reicher zu werden. Vielleicht ist es ja aufgrund der Macht, die ihnen das Geld verleiht. Aber diese Macht ist gefährlich, das hat uns die Geschichte gelehrt. Das ist für mich eines der aktuellen Hauptprobleme. Der Mammon ist der Fluch unserer Zeit. Irgendwann muss dieser Zustand gestoppt werden, sonst gibt es nie Frieden auf der Welt und eine Katastrophe ist vorprogrammiert.
Ich meine, es sollte, ganz konkret, eine Obergrenze des Reichtums geben. Jeder, dessen Kapital höher ist als diese Grenze, sollte den Überschuss abgeben müssen und die Mittel zugunsten der Armutsbekämpfung eingesetzt werden. Ich möchte das mit einer simplen Metapher verdeutlichen: Ein Bauer, der gute Ernte macht, sollte eine Ecke seines Ackers nicht abernten, sondern den Armen überlassen. Solche Maßnahmen und Gesetze müssten weltweit von den Regierungen eingeführt und durchgesetzt werden. Nur so wäre es möglich, Gewalt, Kriege und Armut nachhaltig zu eliminieren.

Und auch der technische Fortschritt bringt uns keine Erleichterung mehr, sondern beschert den Menschen zunehmend Orientierungslosigkeit und – im Falle des Internets vor allem bei vielen jungen Leuten – eine gewisse Art der gesellschaftlichen Vereinsamung. Noch viel schlimmer scheint mir auch die Verrohung der Sprache und Umgangsformen die sich in den sozialen Medien dermaßen ausgebreitet hat das mir Angst und Bange wird: Rassismus, Hetze gegen andersdenkende und Minderheiten, die Verbreitung von Lügen und Unwahrheiten, die in den sozialen Netzen als Tatsachen hingestellt oder gar verstärkt werden, ist ein Phänomen das man mit allen rechtlichen Mitteln bekämpfen sollte.

Denn gerade junge Menschen nutzen diese neuen Technologien immer stärker und zum Teil ausschließlich und es besteht meiner Meinung nach die Gefahr, dass eine ganze Generation von Jugendlicher heranreift die den Wert der Freiheit und die Errungenschaften der Demokratie nicht mehr zu schätzen wissen und demzufolge letztlich nicht bereit sind für diese beiden höchsten Güter zu kämpfen.

Im Rückblick auf mein langes Leben habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu den Religionen: Es ist doch so, dass durch sie viele Kriege entfacht wurden, obwohl alle nicht müde werden, Frieden und Nächstenliebe zu proklamieren. In ihrem ursprünglichen Sinn sind die Religionen in Ordnung. Wenn jemand einen ehrlichen Glauben hat, ist er auch nicht gewalttätig. Auch gewisse Bräuche und Traditionen haben bestimmt einen Sinn, sie geben den Menschen ein Gefühl des Zusammenhaltes. Aber sobald sich eine Religion zur allein gültigen hochschwingen will und alle anderen verachtet, ja bekämpft, dann hat das für mich nichts mehr mit dem Glauben zu tun, dann geht es nur noch um versteckte Machtgelüste. Also dasselbe Motiv, das den Kapitalismus zu dem werden ließ, was er heute ist.

Meiner Ansicht nach kann man auch einige Parallelen zwischen dem Holocaust und dem Terrorismus sehen. Und mit Terrorismus meine ich auch den Terrorismus den Diktatoren und Despoten, manchmal im Namen der Religion oder einer Ideologie, in dieser Welt verbreiten und unterstützen. Die Unterdrückung und Vernichtung der Juden hatte ja nur einen Zweck: Es musste ein innerer Feind gefunden werden, um die Macht Hitlers und seiner Schergen zu festigen. Dies war nicht nur in Deutschland der Fall, viele Diktaturen haben das so gemacht. Denken wir nur an die Schwarzen in Südafrika. Es gäbe noch viele Beispiele, die Jahrtausende zurückliegen.

Der Holocaust war der unbeschreiblichste Massenmord in der Menschheitsgeschichte und deshalb sollte es für die ganze Welt eine Lehre sein. Aber ist es das? Die Ausländerfeindlichkeit zum Beispiel hat zugenommen, rassistische und terroristische Gruppierungen schüren Hass und scheuen sich nicht davor, Kinder zu ermorden. Hier sehe ich einen enormen Gefahrenherd für die Menschheit.

Ich persönlich habe nach meinen Erlebnissen den Glauben an einen gerechten Gott verloren. Aber wer weiß denn schon, ob es tatsächlich einen Himmel oder eine Hölle gibt? Für mich ist nicht relevant, was nachher ist, sondern wie wir uns in unserem Leben verhalten.

Was man den Religionen aber zugutehalten muss, ist die Tatsache, dass sich einige von ihnen vermischt haben und so neue, auch friedliche Kulturen entstanden sind. Wer fragt denn nach der Religion, wenn er arabisch, chinesisch oder türkisch essen geht, was ja heute in der ganzen Welt verbreitet und beliebt ist. Aber glauben bedeutet auch immer, nicht zu wissen, und deshalb darf und kann es nicht sein, dass gewisse Gruppierungen der Menschheit ihren Glauben unter brutalster Gewaltanwendung oktroyieren wollen. Auch der Terrorismus entsteht ja mehrheitlich aus fanatischem Glauben, und auch hier spielt es keine Rolle, ob jemand Muslim, Christ oder, auch wenn ich dieser Religion angehöre, Jude ist. Alles Extreme, Gewalttägige und Fanatische lehne ich aus vollstem Herzen ab. Wenn eine Gruppierung eine Moschee in Brand setzt, besteht kein Unterschied zur Kristallnacht, als die Deutschen unsere Synagogen niedergebrannt haben.

Wenn ich den jungen Leuten heute einen Ratschlag geben müsste, dann wäre es folgender: Ob jung oder alt, der Mensch sollte weniger egoistisch sein. Per se ist ja jeder sich selbst der Nächste, das liegt in unserer Natur und wird sich wohl kaum ändern.

Des Weiteren müsste auch Ehrlichkeit gegenüber den Mitmenschen wieder vermehrt eine Tugend werden. Wenn wir sehen, wie viel Korruption noch in unserer Welt besteht, stimmt mich das traurig. Sie ist im Großen wie im Kleinen eine der übelsten Formen der Unehrlichkeit.

Wenn mich heute irgendein Mensch fragen würde: "Shlomo, wie muss ich mein Leben leben, damit ich so glücklich werde wie du?" Meine Antwort wäre folgende: Erstens - sei nicht abergläubisch, das ist Blödsinn. Wenn du glauben willst, dann tu das, aber sei tolerant gegenüber andersgläubigen. Und woran du auch immer glaubst, glaube zuallererst an dich selbst! Zweitens - sei zufrieden mit dem, was du hast. Wenn du zufrieden bist, wirst du dich automatisch und mühelos verbessern. Aber hüte dich vor krankhaftem Ehrgeiz und Gier. Denn wenn du nur immer höher und höher steigen willst, wenn du immer mehr und mehr willst, dann ist der Absturz umso schmerzhafter, und er wird mit Bestimmtheit kommen, denn du hast deine Grenzen längst überschritten. Und drittens - Freiheit und Demokratie sind Geschenke die euch gegeben wurden um diese zu wahren und wenn nötig zu verteidigen. Für die Freiheit, und die Demokratie ist meiner Meinung nach die beste aller Formen diese zu gewähren, muss sich jeder einsetzen, denn ich kann euch aus eigener Erfahrung versichern, dass kein Mensch auf dieser Welt "gefangen" sein will – in keiner Art und Weise.

Meine Bücher habe ich aus einem einzigen Grund geschrieben: Um den Menschen und speziell der Jugend folgende Botschaft zu übermitteln; Ich habe drei Konzentrationslager (darunter Auschwitz) und auch einen Todesmarsch überlebt. Meine Familie, meine Mutter, meine vier jüngeren Geschwister, meine Großmutter, meine Tanten und Onkel, alle wurden in Auschwitz vergast. Ich habe damals Dinge erlebt die man sich als Mensch nicht vorstellen kann.
Obschon ich mit Sorge auf die heutige Welt schaue, so bin ich dennoch zuversichtlich. Denn wenn ich etwas im meinem langen Leben gelernt habe, dann dies: Die meisten Menschen tragen die Fähigkeit in sich Recht von Unrecht zu unterscheiden, fast allen Menschen wohnt ein moralischer Kompass inne der dafür Sorge trägt dass wir uns für das Gute und gegen das Böse einsetzen und wenn nötig gar mit unserem Leben für Recht und Freiheit und Gleichheit einstehen.

Mutters Traum einer großen und kinderreichen Familie, ihr Traum, dass sie und wir alle dereinst glücklich im gelobten Land Israel unser Leben verbringen würden – dieser Traum endete am Selektionsposten von Auschwitz. Alles, was von ihr, ihren Kindern (meinen Geschwistern) und ihren Träumen übrig blieb, war Rauch aus den Schornsteinen dieser Todesmaschinerie und ein wenig Asche in den Krematorien. Was ich dir, Mutter, und auch meinen drei kleinen Brüdern und meiner kleinen Schwester heute, nach all den Jahren, an dieser Stelle noch sagen möchte ist folgendes: Mutter, es bedrückt mich bis heute, dass ihr damals bei der Selektion in Auschwitz, in dem großen Durcheinander, von mir getrennt wurdet, mir fortgerissen wurdet, ohne dass ich auch nur ein Wort des Abschieds hätte sagen können. Ich sehe immer noch dich und die Kinder, die sich an dich klammerten, in der Angst, dich im Gewimmel zu verlieren. Ihr entferntet euch, und ich blickte euch nach, bis ihr meiner Sicht entschwandet. Damals wusste ich nicht, dass es euer letzter Weg sein sollte.

Ich erschaudere, wann immer ich an euren letzten Weg und die Qualen denke, die ihr bei eurem Eintreten in die Gaskammern durchgemacht habt. Ich bekomme eine Gänsehaut und möchte, selbst heute noch, weinen bei diesem Gedanken. So hoffe ich mit aller Inbrunst, die ich aufbringen kann, dass ihr irgendwo da oben seid und meine Worte hört. Ich hoffe, dass euer junger Tod nicht umsonst gewesen sei – ich hoffe, dass die Menschheit etwas gelernt hat aus den Schrecken von damals.

Shlomo Graber, im März 2018