Abschied von letzter Heidenhain-Tochter

Lotte Januszewski starb mit 84 Jahren – Vielseitig engagierte Frau arbeitete über Jahrzehnte im Unternehmen mit

09.09.2017 | Stand 20.09.2023, 22:16 Uhr

Lotte Januszewski Anfang der 80er Jahre und bei ihrem Abschied 2012. Sie prägte im Unternehmen den Spruch: "Heidenhain-Mitarbeiter halten sich gegenseitig die Tür auf und den Rücken frei." − Fotos: Heidenhain

Traunreut. Kurz vor ihrem 85. Geburtstag verstarb die letzte noch lebende Tochter von Dr. Johannes Heidenhain. Die vielseitig begabte und voller Energie steckende Lotte Januszewski war zeitlebens ein Familienmensch, arbeitete aber auch Jahrzehnte in dem von ihrem Vater nach dem Krieg in Traunreut neu aufgebauten Industriebetrieb tatkräftig mit. "Lotte Januszewski war eine ganz besondere Persönlichkeit, die unser Unternehmen entscheidend mitgeprägt hat. Bis zuletzt blieb sie unserer Firma eng verbunden und gab uns immer wieder wertvolle Impulse. Die Nachricht von ihrem Tod hat uns sehr bewegt", versichert deshalb auch Dr. Thomas Sesselmann, Sprecher der Heidenhain-Geschäftsführung.

Geboren wurde Lotte Heidenhain als jüngste der drei Töchter von Dr. Johannes und Dr. Charlotte Heidenhain in Berlin im Jahr 1932. Ihre Mutter war die Nichte von Nobelpreisträger Otto Hahn, bei dem Dr. Johannes Heidenhain seine Doktorarbeit gemacht und in dieser Zeit wesentliche Vorarbeiten für dessen Entdeckung der Kernspaltung geleistet hatte. Das Unternehmen Heidenhain hatte Wilhelm Heidenhain bereits 1889 in Berlin gegründet.

Familienmensch und Karriere im UnternehmenWährend Dr. Johannes Heidenhain die in Berlin während des Krieges schwer beschädigte Firma ab 1948 in Traunreut neu aufbaute, befand sich Dr. Charlotte Heidenhain mit den Töchtern im Ferienhaus ihres Vaters in Oberstdorf, wo sie bereits in Kriegszeiten Zuflucht gefunden hatten. Dr. Johannes Heidenhain wohnte die ersten Jahre in Traunreut in Baracken, um nahe an seinen Mitarbeitern zu sein. Er holte die Familie erst 1950 nach, als er ihnen hier entsprechende Lebensumstände bieten konnte.
1953 heiratete Lotte Heidenhain den Diplom-Chemiker Anton Januszewski, der in der Firma des Vaters beschäftigt war. In den Jahren 1954 bis 1957 schenkte Lotte Januszewski ihren Söhnen Maximilian, Thomas und Gabriel das Leben und widmete sich deren Erziehung. Ihr Mann war 1960 zum Prokuristen bei Heidenhain aufgestiegen. Lotte Januszewski trat 1970 in das Unternehmen ihres Vaters ein und erarbeitete sich in verschiedenen Positionen ein umfassendes Wissen über die Firma, die verschiedenen Abteilungen und Mitarbeiter. Ihr Vater hatte sich zu dieser Zeit aus dem bereits über 800 Mitarbeiter zählenden Unternehmen zurückgezogen und seine Anteile an die nach ihm benannte Stiftung übergeben.
Als Anton Januszewski 1977 verstarb, zeigte sich der Tatendrang der jüngsten Heidenhain-Tochter. Sie begann ein Betriebswirtschaftsstudium in München und arbeitete gleichzeitig halbtags im Traunreuter Unternehmen weiter. Nachdem sie ihren Abschluss erreicht hatte, stieg sie bei Heidenhain bis zur Prokuristin auf. Gerade als Tochter des einstigen Firmenchefs musste sie stets ihre Fähigkeiten beweisen, um von Geschäftsführung und Kollegen anerkannt zu werden. Dass sie letztlich sogar die Gesamtprokura erhalten hatte, belegt ihre Fähigkeiten.
Bis 1990 war Lotte Januszewski unter anderem für die Stabsstellen Beteiligungen, Recht, Steuern, Versicherungen, Unternehmenskommunikation und für Sonderaufgaben zuständig. Maßgeblich war sie auch an der Gestaltung der bis heute erscheinenden Mitarbeiterzeitschrift "Prisma" beteiligt. 1998 übernahm sie schließlich Verantwortung als eine von fünf Gesellschaftern der Dr. Johannes Heidenhain Stiftung GmbH, die treuhänderisch die Anteile an der Dr. Johannes Heidenhain GmbH halten. Ab 2001 gehörte sie zudem dem Aufsichtsrat der Dr. Johannes Heidenhain GmbH an.
Aufsichtsrätin und Stiftungsgesellschafterin Beide Ämter legte sie 2012 bewusst nieder, um Platz zu machen für jüngere Nachfolger. Rainer Burkhard, Vorsitzender des Heidenhain-Aufsichtsrats und Geschäftsführer der Dr. Johannes Heidenhain Stiftung, sagte in seiner Rede zu ihrer Verabschiedung: "Für mich sind Sie immer ein Vorbild darin gewesen, dass man neben den Fakten der technischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten gerade die Menschen, die Individuen, nicht aus den Augen verlieren darf. Von Ihnen kann man lernen, den Bedürfnissen und Nöten des Einzelnen die nötige Beachtung und Aufmerksamkeit zu schenken."
Tatsächlich war das Wohl der Mitarbeiter für sie stets ein großes Anliegen, wie Dr. Sesselmann versichert: "Dies ist auch in unseren seit der Gründung gelebten Unternehmensgrundsätzen verankert. 1987 war sie maßgeblich daran beteiligt, diese Grundsätze in einer Form niederzuschreiben, die heute noch zutreffend und gültig ist. Sie unterscheiden sich von den heute weitverbreiteten, einseitig auf kurzzeitige Aktionärsgewinne ausgelegten Geschäftsmodellen, sind auf langfristigen Bestand ausgelegt und bleiben für uns Richtschnur unseres unternehmerischen Handelns nach innen und nach außen. So wird Lotte Januszewski bei Heidenhain weiterleben."

Einsatz für das Wohl der MitarbeiterIm Unternehmen war sie als letztes Mitglied der Heidenhain-Familie tätig. Ihre drei Söhne haben sich anderen Berufen gewidmet. Die Familie war Lotte Januszewski bis zum Schluss sehr wichtig. Als vielseitig begabte Frau – sie sprach fließend Englisch und Portugiesisch – hatte sie auch eine künstlerische Ader. So veröffentlichte sie 1981 und 1986 Gedichtbände, in denen sie sich mit gefühlvollen Worten vor allem den Themen Sehnsucht und zwischenmenschliche Beziehungen widmete. Aus einem Band entnahm die Familie folgende Zeilen für die Traueranzeige: "weil doch alle / gemeinsam verbrachte Zeit / in uns und / damit auch vor uns liegt, / wird die Zukunft schwer sein, / wird die Zukunft leicht sein."

Naturverbunden und vielseitig aktivIhre Lebensfreude zog Lotte Januszewski aber auch aus ihrer Naturverbundenheit, und sie lebte für ihre Verhältnisse, als Tochter des einstigen Inhabers der größten Firma in der Stadt, relativ bescheiden in ihrem Haus nahe des Traunrings. Dort buk sie beispielsweise nicht nur Plätzchen für so manche Heidenhain-Mitarbeiter, sie kochte auch mit Hingabe. Ein Beispiel für ihren eisernen Willen und ihr Durchsetzungsvermögen zeigt letztlich eine Episode aus diesem Bereich, an die sich Dr. Sesselmann mit einem Schmunzeln erinnert. Lotte Januszewski war eines Tages dabei, Marmelade aus Früchten aus ihrem Garten herzustellen, als plötzlich der Strom ausfiel: "So rief sie die Haustechniker des Unternehmens in ihr Haus, um schnellstmöglich den Fehler zu suchen, damit sie die Marmelade fertig kochen konnte. Nachdem diese im Haus keinen Fehler fanden, fuhren sie zum Umspannhäuschen und gelangten tatsächlich mit einem Schlüssel ins Innere, wo sie die Ursache für den Stromausfall auch entdeckten und behoben." So gelang letztlich die Marmelade, das Unternehmen aber musste anschließend die nicht überaus begeisterten Verantwortlichen des Energieversorgers besänftigen.
Erinnerungen wie diese werden dafür sorgen, dass Lotte Januszewski unvergessen bleibt – als ein nicht immer einfacher, prinzipientreuer und energischer, aber gleichzeitig von vielen geschätzter und geliebter Mensch, der schon früh erkannt hat: "meine ausbruchsversuche / aus unserer Endgültigkeit / sind, / schon das wort buchstabiert es, / am ende endgültig." (aus ihrem Gedichtband "Worte wie Sehnsucht", 1981).