Grundsteinlegung 1970
50 Jahre Werk Dingolfing: Der damalige BMW-Chef erinnert sich

07.11.2020 | Stand 20.09.2023, 5:54 Uhr

Eine Bautafel kündigt den Bau des BMW Fahrzeugwerks 02.40 in Dingolfing an.

Der 9. November ist für BMW Dingolfing ein denkwürdiger Tag. 50 Jahre zuvor war der Grundstein für das Werk 2.40 gelegt worden.

Nach der Übernahme des Goggo-Herstellers Glas durch die Bayerischen Motorenwerke 1967 war die Autoproduktion 1969 ausgelaufen. In Dingolfing wurden nur noch Komponenten für München gefertigt. Die Grundsteinlegung 1970 durch Bayerns Ministerpräsident Dr. Alfons Goppel und dem damaligen BMW-Vorstandsvorsitzenden Eberhard von Kuenheim markierte die Wende. 50 Jahre später wird der Konzern von elf Millionen BMW berichten, die seither in Dingolfing gefertigt wurden.

Ein Jubiläum, das nicht gefeiert wird

Gefeiert wird das Grundstein-Jubiläum nicht, was allerdings nicht Corona geschuldet sei, wie Bernd Eckstein, Pressesprecher von BMW in Dingolfing, auf PNP-Nachfrage sagt und daran erinnert, dass erst vor drei Jahren "50 Jahre BMW in Niederbayern" mit diversen Aktionen groß begangen wurde. Dennoch sei der 9. November ein denkwürdiger Tag, findet auch Eckstein, war es doch der Startschuss dafür, dass Niederbayern wieder Autoland wird.

Die Pressestelle von BMW in Dingolfing hat Parallelen zwischen damals und heute ausgemacht: Wirtschaftlich schwierige Zeiten und die Neuausrichtung für den Autokonzern. So entstand die Idee, Eberhard von Kuenheim und Stephan Schmid zu diesen Entscheidungen zu befragen. Der 92-jährige Kuenheim war 23 Jahre (1970 bis 1993) lang Vorstandsvorsitzender der BMW AG und saß weitere sechs Jahre dem Aufsichtsrat vor. Stefan Schmid (55) ist seit 25 Jahren Betriebsrat in Dingolfing, seit 2004 Vorsitzender und zudem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Das Interview wurde jetzt veröffentlicht.

Wie bewerten Sie diese Entscheidung im Rückblick?
Eberhard v. Kuenheim: Ich erinnere mich noch gut. Die Rahmenbedingungen waren alles andere als günstig. Das Wirtschaftswachstum hatte sich verlangsamt. Am Horizont zeichnete sich die erste Ölkrise ab. Die weit verbreitete Meinung lautete damals, BMW habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, das Automobil sei am Ende. Heute dürfen wir feststellen, dass die Entscheidung, ein neues Fahrzeugwerk in Dingolfing zu errichten, die Basis geschaffen hat für das beachtliche Wachstum von BMW in den folgenden Jahrzehnten. Es hat sich gelohnt, den eingeschlagenen Weg – auch gegen Widerstände – zu Ende zu gehen. Mehr als elf Millionen Fahrzeuge, die seither gefertigt wurden, sind dafür ein schöner Beleg.

War die Standortentscheidung für Dingolfing also ein "Glücksfall" für die Region?
Stefan Schmid: Ich denke, diese Frage kann man ganz objektiv mit "Ja" beantworten. BMW und Niederbayern, das war immer mehr als "nur" Automobilproduktion. Unser Unternehmen hat ungeheuer viel in die Region investiert – weit über 10 Milliarden Euro allein in Dingolfing. Wir haben über 20.000 gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Die Löhne und Gehälter unserer Mitarbeiter wirken unmittelbar als Kaufkraft in der Region. Nicht zu vergessen die Gewerbesteuer, die den Kommunen einige Gestaltungsspielräume eröffnet. Darüber hinaus sind viele klein- und mittelständische Zuliefer-Unternehmen unserem Beispiel gefolgt und haben ebenfalls hier in der Region investiert. Hinzu kommen die zahlreichen Dienstleister, die unseren täglichen Betrieb überhaupt erst möglich machen – vom Bäcker über die Baufirma bis zum Busunternehmen. Im Gegenzug profitieren wir von einer ausgezeichneten Infrastruktur, guten Bildungsangeboten sowie hochqualifizierten und motivierten Mitarbeitern. Eine echte "Win-Win-Situation" – wie der Niederbayer sagt.

Herr v. Kuenheim, Sie sind Ehrenbürger der Stadt Dingolfing. Die Entwicklung dieses Standorts wird für immer mit Ihrem Namen verbunden bleiben. Liegt Ihnen das Werk in besonderer Weise am Herzen?
v. Kuenheim: Nun ja, ich wäre nicht ehrlich, wenn ich dies bestreiten würde. Schließlich ist es beeindruckend zu sehen, was hier in den letzten fünf Jahrzehnten entstanden ist. Eine echte Erfolgsgeschichte, geschrieben von tausenden Menschen, die Dingolfing zu einem weltweit beachteten Aushängeschild des deutschen Automobilbaus gemacht haben. Rund 85 Prozent der Fahrzeuge gehen heute ins Ausland. Wenngleich ich gestehen muss, dass ich auch unserem Werk in Spartanburg persönlich sehr verbunden bin, das wir Anfang der 90er Jahre ebenfalls in einer Phase der Rezession auf den Weg gebracht haben. Beide Werke sind heute nicht nur die größten im Produktionsverbund von BMW. Sie sind für ihre Region auch zu einem Motor von Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung geworden.

Hin und wieder wird jedoch eine zu große Abhängigkeit der Region von BMW kritisiert. Wenn BMW huste, habe Niederbayern die Grippe, sagt der Volksmund.
Schmid: Das mag in der Vergangenheit zugetroffen haben. Heute ist die Welt eine andere. Niederbayern ist deutlich vielfältiger und robuster als dieser Vergleich unterstellt. Natürlich sind wir weiterhin ein sehr großer Betrieb hier in der Region – und uns ist bewusst, welche Verantwortung damit einhergeht. Dieser werden wir meiner Meinung nach am besten dadurch gerecht, indem wir dafür sorgen, dass wir international wettbewerbsfähig sind, technologisch an der Spitze bleiben und die Menschen mitnehmen auf den Weg der Veränderung. Und da sind wir gut unterwegs – vielleicht nicht so marktschreierisch wie manch andere Marktteilnehmer, aber durchaus selbstbewusst auf der Basis von Fakten und Substanz. Ich denke da an das Thema E-Antriebsproduktion, die Digitalisierung, die bei uns längst Einzug gehalten hat, oder die Rekordzahl von Azubis, die in diesem Jahr – gegen den allgemeinen Trend – bei uns begonnen haben.

Die Erfolgsgeschichte geht also weiter?
Schmid: Es liegt an uns. Für die Zukunft gibt es keinen Blanko-Scheck – auch nicht für einen Standort wie Dingolfing. Wenn wir heute die Früchte ernten, die vor langer Zeit gesät wurden, dürfen wir nie vergessen, auch selbst zu säen und die Weichen richtig zu stellen. Das gilt für uns bei BMW. Das gilt aber genauso für alle anderen Entscheidungsträger in der Region. Die nachfolgenden Generationen werden uns fragen, welchen Beitrag wir geleistet haben, um gute Arbeit und eine lebenswerte Gesellschaft auch langfristig sicherzustellen.

Die Automobilindustrie steht erneut vor einem Umbruch – getrieben durch die fortschreitende Digitalisierung und Dekarbonisierung. Dazu kommt die Corona-Pandemie mit ihren Auswirkungen. Ist langfristiges Denken und antizyklisches Handeln auch ein Erfolgsrezept für die aktuelle Situation?
v. Kuenheim: Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Und es liegt mir fern, denjenigen, die heute in Verantwortung stehen, konkrete Ratschläge zu erteilen. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass sich wahre unternehmerische Erfolge nur langfristig zeigen. Und dass es sich auszahlt, nicht nur von einem Berichtszeitraum zum nächsten zu denken, sondern seine Linie zu halten und mutige Entscheidungen zu treffen. Was in drei oder sechs Monaten ist, ist oftmals gar nicht so relevant. Aber es gibt einen unschätzbaren Wert – und der heißt Zukunftsfähigkeit. Dieser Wert steht nicht in der Bilanz. Auch im Jahresabschluss ist er auf den ersten Blick nicht sichtbar. Und dennoch ist Zukunftsfähigkeit das wertvollste Gut von Unternehmen und Gesellschaften.

Wie ist es um die Zukunftsfähigkeit von Dingolfing bestellt?
Schmid: Ich denke, wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Dingolfing ist unser Leitwerk für die Oberklassen-Modelle. Wir sind Kompetenzzentrum für E-Antriebsproduktion, Herz der weltweiten Aftersales Logistik und wandeln uns immer stärker von einem Produktions- zu einem Technologiestandort. Mit dem BMW iNEXT, der hier im kommenden Jahr anlaufen wird, vertraut uns das Unternehmen seinen absoluten Innovationsträger an. Das zeigt mir: bei BMW in Dingolfing hat die viel zitierte Transformation längst begonnen. Vieles ist heute schon sichtbar, greifbar und erlebbar. Aber das war alles kein Selbstläufer. Dafür haben wir hart gearbeitet und frühzeitig einige Weichen gestellt. Als Betriebsrat erhalten Sie nicht immer sofort Applaus, wenn Sie Veränderungen mit anstoßen. Aber wir sehen uns hier als gestaltende Kraft und wollen die Zukunft mitbestimmen, in der wir künftig arbeiten.

Die individuelle Mobilität und gerade das Automobil sind zuletzt häufig Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Diskussionen geworden. Sehen Sie darin noch ein Geschäftsmodell für die Zukunft?
v. Kuenheim: Die Mobilität von Menschen und Gütern ist nicht die Folge, sondern die Grundlage unseres Wohlstands. Das gilt es meiner Ansicht nach in der öffentlichen Debatte stärker herauszuarbeiten. Mobil zu sein, ist nun mal ein menschliches Grundbedürfnis. Mobilität bedeutet Fortschritt. Sie bringt den Menschen ein Stück Freiheit und Individualität. Gleichwohl wird sich die Art und Weise, wie Menschen sich fortbewegen können, wollen und dürfen, auf absehbare Zeit ändern. Ich persönlich bin überzeugt: die Frage, wie individuelle Mobilität zukunftsfähig gestaltet werden kann, ist vor allem durch neues Denken und technische Innovationen zu beantworten – nicht durch Verbote. Und das Automobil wird dabei weiterhin eine zentrale Rolle spielen.

Schmid: Wir nehmen die Debatte um Klimaschutz sehr ernst. Unser Ziel ist es, ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Interessen sinnvoll in Einklang zu bringen – wo immer wir uns engagieren. Das Thema Nachhaltigkeit etwa steht bei uns schon lange weit oben auf der Agenda. Es war unter Ihrer Ägide, Herr von Kuenheim, als BMW 1973 einen Umweltbeauftragten installierte – als erster Automobilhersteller überhaupt. Ebenfalls in den 70er Jahren wurde die Entscheidung getroffen, hier in Dingolfing unser Pendelbussystem auszubauen, um den Individualverkehr zu reduzieren und die gewachsene Struktur unserer Region zu erhalten. Zur gleichen Zeit wurde das Werk an das Fern-Erdgasnetz angeschlossen. Heute produzieren wir 50 Prozent unserer Energie selbst – und kaufen die anderen 50 Prozent als Grünstrom dazu. Ich könnte die Liste noch weiter fortsetzen. Auf der anderen Seite wird industrielle Wertschöpfung immer mit der Nutzung von Ressourcen und einem gewissen Verkehrsaufkommen verbunden sein. Wo produziert wird, werden Güter geliefert, Strom verbraucht, etc. Auch das gehört zur Wahrheit. Entscheidend ist, dass es uns gelingt, Wachstum und Wohlstand vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. So haben wir etwa den CO2-Fußabdruck der BMW Group Produktion in den vergangenen Jahren schon signifikant gesenkt und wollen dies bis 2030 pro gefertigtem Fahrzeug um weitere 80 Prozent tun.