Vinschger Sommerfrische

13.08.2022 | Stand 20.09.2023, 6:37 Uhr

Der versunkene Kirchturm des 1950 gefluteten Dorfes Graun ragt weit aus dem Reschensee heraus. Das Wasser war im vergangenen Jahr abgelassen worden, weil Rohre, die durch den See führen, repariert werden mussten. Wegen des wenigen Niederschlags und der geringen Schneeschmelze führt der Reschensee auch heuer wenig Wasser. Auf Sandbänken können Touristen um das Mahnmal gehen. −Fotos: Isabel Metzger

Im Oberen Vinschgau in Südtirol können Urlauber der Hitze entfliehen und die Frische am Berg genießen. Doch auch auf 3000 Metern Höhe ist im Sommer 2022 einiges anders als früher. Im Gespräch mit Einheimischen.

Seit er 14 ist, verbringt Karl Peter Thöni den Sommer auf dem Stilfserjoch. Jeden Tag habe er den Gletscher auf 3400 Metern im Blick, sagt der heute 60-Jährige. Und jeden Tag zeichnet Karl Peter Thöni, Cousin der Südtiroler Skilegende Gustav Thöni, die Wetterdaten auf.

Mitte der 70er Jahre konnte er noch täglich vom Skipass- und Skiliftbüro am Stilfserjoch, in dem er arbeitet, mit den Skiern bis zur Passhöhe auf 2760 Metern abfahren, erinnert er sich. Sieben, ja acht Grad sei es damals in den Sommermonaten kälter gewesen im Vergleich zu heute, schätzt er. Inzwischen sei die Abfahrt zur Passhöhe maximal ein paar Mal möglich, und auch dann nur im Juni, später im Sommer sei sie nicht mehr vorstellbar, bedauert Thöni, der wie sein berühmter Cousin aus Trafoi am Stilfserjoch stammt.
Freilich herrschten in dieser Höhe im Extrem-Sommer 2022 auch urtypische Temperaturen. Von 8. bis 19. Juli habe das Thermometer vier Grad angezeigt, sagt der Bergfex. Wenige Tage danach schnellte es hoch – Thöni notierte 21 Grad auf knapp 3000 Metern, ein neuer Rekordwert. Und sie blieben hoch; Anfang August hat er 17 Grad gemessen – wohlgemerkt im Schatten. Die krassen Temperaturen haben Konsequenzen. Der Sommerskibetrieb musste – erst zum zweiten Mal nach 2017 in der Geschichte – bis auf Weiteres eingestellt werden. "Aus Sicherheitsgründen", wie der erfahrene Skifahrer und -lehrer Thöni betont. "Es ist zu gefährlich, dass ein Athlet in eine Gletscherspalte stürzen könnte." Denn die bereits vorhandenen Gletscherspalten würden durch das warme Wetter größer, neue kämen hinzu. Thöni weiß: "Wenn’s Wasser vom Ortler runter rinnt, dann ist die Nullgradgrenze bei über 4000 Metern."

Eine der schönsten Berghütten Südtirols

Karl Peter Thöni will die Skisaison am Stilfserjoch für diesen Sommer aber noch nicht abhaken. Sobald es 20 Zentimeter geschneit habe und es einige Tage hintereinander kühler sei, könne der Betrieb wieder anlaufen. Allerdings: Selbst wenn Schnee fällt, bleibt dieser nicht so einfach liegen. Denn die Felsen würden sich wegen der hohen Temperaturen stark erwärmen. Der Schnee darauf schmelze daher schneller weg.
Klar, dass Südtiroler, die auf 1500 Metern und darüber aufwachsen, ein anderes Temperaturempfinden haben. "Na, isch des hoaß", stöhnt Karin Heinisch, die aus Matsch (1580 Meter), Südtirols erstem Bergsteigerdorf, stammt. Die 41-Jährige sitzt – bei gefühlt 20 Grad – im T-Shirt auf der Terrasse auf 2670 Metern. Seit 2010 betreiben Karin und ihr Mann Edwin Heinisch (50) die Oberetteshütte in den südlichen Ötztaler Alpen. Inzwischen ist die Familie gewachsen. Karin Heinisch, die als Lehrerin arbeitet, und ihr Mann, der ein Wasserkraftwerk verwaltet, verbringen jedes Jahr ab Mitte Juni die Sommermonate mit ihren drei Kindern Frieda, Leonhard und Jakob am Berg. So einen heißen Sommer wie heuer habe sie in dieser Höhe noch nie erlebt. "Früher konnte ich fünf oder sechs Mal eine kurze Hose anziehen", erinnert sich Karin Heinisch. "Jetzt fast jeden Tag."
Die Hütte, die vom Fachmagazin "Merian" zu einer der sieben schönsten Berghütten Südtirols gekürt wurde, sei vor allem an den Wochenenden oft ausgebucht. Es übernachten auch Familien. Viele Bergsteiger nutzen die Oberetteshütte als Ausgangspunkt, um zu den Saldurseen und zur Weißkugel (3739 Meter) zu gelangen. Während in den ersten drei Jahren fast nur Bekannte den Weg zu den Heinischs fanden, sei der Andrang inzwischen groß. Anfangs kümmerten sich die Hüttenwirte noch um alles allein. Nun haben sie einen Koch und eine Kellnerin zur Unterstützung beschäftigt.

Dass es immer mehr Erholungssuchende in den heißen Wochen des Jahres in die Berge zieht, diese Erfahrung macht man auch im Hotel "Das Gerstl" oberhalb von Burgeis. "Im Sommer müssen wir so gut wie keine Werbung machen", sagt Sarah Gerstl, die das seit 57 Jahren bestehende Hotel zusammen mit ihrem Bruder Lukas in dritter Generation führt. Früher seien es in erster Linie die Italiener gewesen, die der Hitze in den Städten entflohen und die Frische auf 1550 Metern genossen. Inzwischen wissen diese auch vermehrt deutsche, belgische oder Schweizer Urlauber zu schätzen.

Karin und Edwin Heinisch ziehen in der Regel Ende September oder Anfang Oktober zurück ins Tal; heuer aber möglicherweise eher. Denn ob die Saison so lange dauern kann, hänge vom Wasservorrat ab. Im vergangenen Winter habe es auch hier auf knapp 3000 Metern nicht geschneit, sagt die Wirtin und zeigt auf die Umgebung, wo normalerweise im Juli und August noch Schneereste zu sehen sind. Danach sucht man im Sommer 2022 vergeblich. Die Konsequenz bekamen die Gäste kürzlich zu spüren. An einem Samstag habe es kein Wasser mehr gegeben. "Dann mussten wir erst einmal für zwei Stunden die Toiletten sperren", sagt die Wirtin.

Obwohl er täglich am Stilfserjoch die Auswirkungen des Klimawandels beobachten kann, bleibt Karl Peter Thöni indes optimistisch: "Ich hoffe auf mehr schneereiche Winter wie den 2020/21", sagt er, "und auf kühlere Sommer". Eben genau das, wofür die Vinschger ihre Heimat lieben.
Redakteurin Isabel Metzger kennt Südtirol seit über 35 Jahren. Im Obervinschgau recherchierte sie (mit Unterstützung von Girasole-PR) auf eigene Faust.

Der Obere Vinschgau umfasst u. a. den Reschenpass, das Ortlergebiet, Mals, Prad am Stilfserjoch, das Bergsteigerdorf Matsch, Schlanders und auch die kleinste Stadt Südtirols, Glurns. Die Stilfserjoch-Passstraße, die auf 2757 Meter führt, ist die höchste der Ostalpen. Sie entstand von 1820 bis 1825 zwischen Tirol und der damals österreichischen Lombardei. Auf der Ostseite überwindet die Straße auf 28 Kilometer über 48 Kehren 1870 Höhenmeter. Der autofreie Radtag findet heuer am 3. September statt.

ANREISEN
Mit dem Auto über die Inntalautobahn bis nach Innsbruck. Von dort in Richtung Landeck über den Reschenpass in den Oberen Vinschgau.

ÜBERNACHTEN
Das 4-Sterne-Superior-Hotel "Das Gerstl" oberhalb von Burgeis ist ein idealer Ausgangspunkt für Touren, ob im Sommer oder Winter. Das familiengeführte Haus setzt auf sein "R30-Konzept". Seit sieben Jahren versuchen die Gerstls, so viele Lebensmittel und auch Materialien wie Holz oder Marmor aus einem Umkreis von maximal 30 Kilometern Luftlinie zu beziehen wie möglich. Inzwischen werden sie von 50 Bauern aus der Region beliefert. Tipp: Für 65 Euro am Tag kann ein Elektro-Fiat 500 Cabrio gemietet werden. www.dasgerstl.com

WANDERTIPPS
•Die insgesamt 13 Kilometer lange Tour (900 Höhenmeter) zur Oberetteshütte und zurück ist landschaftlich abwechslungsreich. Sie beginnt im Matschertal mit einem leichten Anstieg durch Lärchenwälder, führt dann über eine Forststraße am rauschenden Bach vorbei. Die letzten Kilometer ziehen sich steil über einen Steig auf 2670 Meter Höhe. Trittsicherheit nötig! Zur Oberetteshütte führt nur eine Materialseilbahn. www.oberettes.it
•Gemütlicher und familienfreundlich ist die Wanderung zur Planeiler Alm. Sie startet in Planeil in der Gemeinde Mals. Nach gut fünf Kilometern und rund 600 Höhenmetern hat man die Alm, die auf 2069 Metern liegt, erreicht.

www.vinschgau.net