Beziehungsstatus kompliziert:
Deutsche Fans und die Nationalmannschaft: Ein tiefer Riss, der nur schwer zu kitten ist

23.12.2022 | Stand 17.09.2023, 6:58 Uhr

Enttäuscht: Das Hochgefühl des Triumphs 2014 ist bei den DFB-Fans nach zwei versemmelten Weltmeisterschaften einer Tristesse gewichen. −Foto: Imago Images

Beim Blick ins Land des Weltmeisters dürften die Macher des deutschen Fußballs neidisch werden.

Die teils chaotische, aber maximal euphorische Triumph-Parade der WM-Helden auf den Straßen von Buenos Aires, begleitet von etwa fünf Millionen glückseligen Argentiniern, war der emotionale Höhepunkt einer spürbaren Verbundenheit von Fans und Team während der WM in Katar. Das Kontrastprogramm dazu war zweieinhalb Wochen zuvor in Deutschland zu sehen, als die Nationalspieler nach der WM-Rückkehr schnell und wortlos das Weite gesucht hatten.

Wenn das zweite WM-Vorrunden-Aus in Folge nicht mal mehr Empörung auslöst, dann ist die Entfremdung zwischen Fans und Nationalmannschaft weit vorangeschritten. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur hat bei 46 Prozent der Befragten das Interesse an der DFB-Elf zuletzt nachgelassen. Schlechte Voraussetzungen für ein neues Sommermärchen bei der Heim-EM 2024.

Das Hochgefühl der Weltmeisterschaft 2006 und des WM-Triumphs acht Jahre später ist längst einer Tristesse gewichen. Und die will der kürzlich gegründete Expertenrat, der die Neuausrichtung bestimmen soll, mit als Erstes angehen. „Wie gewinnen wir die Begeisterung und die Liebe für die Nationalmannschaft zurück, für die wichtigste Mannschaft unseres Landes?“ – das ist laut Rudi Völler eine entscheidende Frage für das siebenköpfige Gremium, dem der ehemalige Teamchef selbst angehört.

Mit Erfolg allein scheint der Riss nicht zu kitten. Schon in den Monaten vor der WM habe er gespürt, „dass da etwas verloren gegangen“ sei, sagte Völler der „Sport Bild“. In Katar bestätigte sich dieses Bild. Bei anderen Teams habe er „massive Unterstützung“ gespürt, da sei „der Funke übergesprungen“, erzählte DFB-Präsident Bernd Neuendorf.

Karl-Heinz Rummenigge, der ebenfalls im Expertenrat sitzt, berichtete fast neidisch von Katar: „Hier laufen Tausende Argentinier mit dem Messi-Trikot durch Doha.“ Deutsche Fans sah man fast nur an Spieltagen, und auch dann eher dezent. Und zu Hause stimmten die Zuschauer mit der Fernbedienung ab: Die schwachen Quoten beunruhigen nicht nur ARD und ZDF.

Die Spieler spürten die Ablehnung gegenüber dem umstrittenen Ausrichter, aber auch gegenüber dem Team selbst. „Es ist schon erschreckend, wie viel Missgunst der Nationalmannschaft von der Öffentlichkeit in Deutschland entgegengebracht wurde“, sagte Niklas Füllkrug der „Sport Bild“. Er habe schon als Zuschauer nach dem WM-Aus 2018 das Gefühl gehabt, dass der DFB-Auswahl „teilweise eher der Misserfolg statt der Erfolg gewünscht wird“.

Ganz so negativ sieht es Neuendorf nicht. Die Identifikation mit der Nationalmannschaft sei nicht verloren gegangen, aber das Feuer müsse neu entfacht werden. Aber wie? „Wir müssen mit Demut Fußball spielen. Und wir müssen wieder Herzblut reinbringen“, forderte Rummenigge und nannte die WM-Überraschung Marokko diesbezüglich als Vorbild. Bundestrainer Hansi Flick versicherte: „Wir haben es kapiert.“

Doch selbst ein erfolgreicherer und leidenschaftlicherer Fußball wird die Herzen der Anhänger nicht automatisch zurückgewinnen, meint Helen Breit. Die Sprecherin des Fanbündnisses „Unsere Kurve“ forderte den DFB auf, die „wenigen treuen und zugleich kritischen Fans“ in den Gestaltungsprozess mit einzubeziehen. Die Selbstorganisation der Fans im Zusammenhang mit der Nationalelf müsse wieder gestärkt werden, „statt sie weiterhin in Mitgliedschaftssysteme zu zwingen und sich ausschließlich Event-Fans heranzuzüchten“.

Laut Breit erntet der DFB nun das, was er seit der WM 2006 mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Nationalmannschaft gesät hat. Event-Fans bleiben nun mal – anders als bei der stärkeren Identifikation im Vereinsfußball – „weg, wenn das Event nicht mehr den Ansprüchen entspricht. Sprich: Der sportliche Erfolg ausbleibt“, argumentierte Breit.

Ein Punkt, den Rummenigge einsieht. Es gehe nun „nicht um Marketing, nicht um Merchandising. Da geht es um Zusammenhalt“. Den hatte einst Oliver Bierhof in dem Slogan „#ZSMMN“ (zusammen) zu veranschaulichen versucht. Doch Kampagne entpuppte sich als Eigentor. Bierhoffs Idee, den Begriff „Die Mannschaft“ zur Marke zu entwickeln, war gar ein Dauerärgernis für viele Fans. Der DFB-Direktor räumte nach der WM seinen Posten, der Beiname ist inzwischen gestrichen. „Wir müssen einen Stamm und Kern finden, der jedem in Deutschland klar ist. Das ist enorm wichtig, gibt Stabilität und Identifikation“, forderte Rio-Weltmeister Philipp Lahm. Das sei „das A und O, wenn ich auf die EM 2024 im eigenen Land blicke“, sagte der OK-Chef.

− dpa