Durch eine heftige Explosion bricht ein wichtiger Staudamm im Süden der Ukraine. Die Wassermassen bedrohen Tausende Anwohner. Kiew vermutet, dass Russland damit die ukrainische Gegenoffensive ausbremsen will - und warnt auch vor einer Umweltkatastrophe.
Im von Russland besetzten Teil des südukrainischen Gebiets Cherson sind ein wichtiger Staudamm und das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört worden. Befürchtet werden schwere Überschwemmungen. Nach ukrainischen Angaben sind in der „kritischen Zone“ rund um die Anlage nahe der Stadt Nowa Kachowka etwa 16.000 Menschen zuhause. Kiew und Moskau beschuldigten sich gegenseitig, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Spekuliert wurde, dass der Vorfall ein russischer Sabotageakt sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Russland führt seit mehr als 15 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland.
Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine verfolgen Sie hier in unserem Liveblog.
Ukraine beschuldigt Russland – Moskau dementiert
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte „russische Terroristen“ für die Sprengung des Damms verantwortlich. Auf Internet-Videos war zu sehen, wie große Wassermassen aus der Mauer strömten. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb auf Twitter, Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen.
Die russischen Besatzer hingegen nannten Beschuss durch die ukrainische Armee als Grund für die Zerstörungen an Damm und Kraftwerk. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar vergangenen Jahres überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region – auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.
Schwere Überschwemmungen befürchtet
Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, binnen fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen. Der russische Besatzungschef von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, südlich von Cherson. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Das ukrainische Militär begann auf der rechten Seite des Flusses Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - mit Evakuierungen.
Angrenzendes Wasserkraftwerk komplett zerstört
Beiden Seiten zufolge wurde auch das an den Staudamm angrenzende Wasserkraftwerk zerstört. Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew sagte, es sei „offensichtlich“, dass das Kraftwerk nicht mehr repariert werden könne. Der ukrainische Betreiber der Anlage sprach von kompletter Zerstörung.
Ukrainische Videografik zeigt potenzielles Ausmaß
Der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschtschenko, teilte auf Twitter eine animierte Grafik, die das potenzielle Ausmaß der Zerstörung des Staudammes zeigen soll.
The destruction of Kakhovka hydroelectric power plant is a terrible technogenic, ecological and humanitarian catastrophe. The aftermath of destroying the dam of Kakhovka HPP have been modeled previously - they are on the video. The future of Zaporizhzhia nuclear power plant… pic.twitter.com/EQDEeR7e7N — Anton Gerashchenko (@Gerashchenko_en) June 6, 2023
Dazu schreibt er: „Viele Menschen werden ihre Häuser verlieren, wenn Siedlungen überflutet werden.“ Zudem seien die Überschwemmungen eine „ökologische Katastrophe“: „Zehntausende Tonnen Fische und eine einzigartige Bisphäre werden sterben“, so Geraschtschenko. Auch die Nester von Millionen Vögeln seien überschwemmt worden. Der Berater befürchtet zudem, dass der Nord-Krim-Kanal austrocknen werde und den Bewohnern im Süden und in der Krim das Trinkwasser ausgehen könnte.
Staudamm seit 1950er-Jahren in Betrieb
Der Staudamm wurde Mitte der 1950er Jahre in Betrieb genommen. Er ist am Lauf des Dnipro die sechste und letzte Staustufe vor dem Schwarzen Meer. Die Anlage macht den flachen Strom schiffbar. Sie staut das Wasser auf 200 Kilometer Länge zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka und hält etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Aus dem Reservoir wurden weite Regionen im Süden bis hin zur Krim bewässert.
Außerdem wird Strom erzeugt mit einem Wasserkraftwerk, das nach Betreiberangaben 334 Megawatt Leistung hat. Weil es im Süden der Ukraine kaum Querungen über den Dnipro gibt, verliefen auch eine Straße und eine Bahnlinie über den Staudamm. Sie waren aber bereits nach Kämpfen im Herbst vergangenen Jahres kaum noch nutzbar.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht in der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine „neue Dimension“ des Ukraine-Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, „das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt“, sagte Scholz am Dienstag beim „Europaforum“ des WDR in Berlin. Es sei eine Entwicklung, „die wir mit Sorgfalt und mit Sorge betrachten“.
EU-Ratspräsident schockiert über Explosion
Bestürzt zeigte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel. „Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm“, schrieb er auf Twitter. „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen.“ Er werde das Thema beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni aufbringen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen.
Atombehörde: Keine „unmittelbare Gefahr“ für AKW Saporischschja
Für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja droht nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr. „IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau“, teilte die Behörde mit. Ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax ebenfalls, das AKW am Fluss Dnipro sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist von russischen Truppen besetzt.
− dpa/cav/afp
Zu den Kommentaren