Wegen Ukraine-Krieg
Forscherin: Es kommen dieses Jahr mehr Flüchtlinge als 2015

09.03.2022 | Stand 10.03.2022, 8:16 Uhr

Flüchtlinge aus der Ukraine werden nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof von Mitarbeitern der Caritas und freiwilligen Helfern empfangen. −Foto: Sven Hoppe/dpa

Deutschland muss sich nach Einschätzung der Fluchtforscherin Birgit Glorius auf eine sehr hohe Zahl von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine einstellen.



"Meine persönliche Prognose ist, dass die Ankünfte in diesem Jahr die Zahlen von 2015 auf jeden Fall übersteigen werden", erklärte die Professorin der TU Chemnitz am Mittwoch. "Die Skala ist nach oben offen." 2015 waren etwa 900.000 Migranten vor allem aus Syrien nach Deutschland eingereist.

Größte humanitäre Herausforderung

Glorius sagte, die Menschen aus der Ukraine bräuchten nicht nur eine erste Zuflucht, sondern Wohnraum, Bildungsmöglichkeiten, Sprachkurse, psychosoziale Unterstützung und menschliche Anteilnahme. "Das wird auch für Deutschland die größte humanitäre Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs." Aus der Ukraine sind nach Schätzungen Vereinten Nationen seit Beginn des russischen Einmarschs schon mehr als zwei Millionen Menschen geflohen.

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Glorius sagte, die Fluchtbewegung aus der Ukraine sei derzeit sehr dynamisch und setze deren Nachbarländer unter Druck. So seien allein in Polen in den ersten zehn Tagen seit Beginn des Krieges rund 900.000 Menschen angekommen. Außer in Polen suchten viele Ukrainer in Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Moldawien Zuflucht. Auch wenn viele Menschen von dort weiter reisten, bedeute dies für diese Länder eine enorme logistische Anstrengung bei der Erstversorgung.

Wie viele Menschen noch in die Flucht getrieben werden, hänge vom weiteren Kriegsverlauf ab, sagte die Forscherin, die dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorsteht. Nehme man die Zahlen aus der Ostukraine seit 2014 zum Vergleich, dann müsste Europa mit zehn Millionen Ukraine-Flüchtlingen rechnen.

Dobrindt will Hilfen für Länder

Angesichts der steigenden Zahlen ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland fordert CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt von der Bundesregierung mehr Hilfen für Länder und Kommunen. "Wir werden in den nächsten Tagen ganz erheblich ansteigende Fluchtbewegungen sehen", sagte Dobrindt der "Augsburger Allgemeinen" (Mittwoch). Dafür werde schnellstmöglich ein Verteilermechanismus benötigt, da die Geflüchteten nicht nur in den großen Städten untergebracht werden könnten.

"Die Bundesregierung muss einen Verteilungsschlüssel organisieren und den finanziellen Ausgleich für Länder und Kommunen auf den Weg bringen", sagte Dobrindt. "Die aktuelle Situation, dass die hauptsächlich geflüchteten Frauen und Kinder in der Grenznähe zur Ukraine bleiben, wird sich mit den zunehmenden Fluchtbewegungen verändern und viele Menschen weiter nach Westen führen."

Deutscher Städtetag fordert Flüchtlingsgipfel

Der Deutsche Städtetag hat sich für einen Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen ausgesprochen. "Die Städte bereiten sich intensiv auf die Aufnahme weiterer Menschen vor. Für all das brauchen wir die Unterstützung von Bund und Ländern", sagte der Hauptgeschäftsführer des Städtetages, Helmut Dedy, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Nötig sei etwa eine Verständigung darüber, von welchen Annahmen ausgegangen werde und welche Kapazitäten aufgebaut werden müssten. "Außerdem müssen Bund und Länder alles dafür tun, die Flüchtlinge bundesweit zu verteilen, auch wenn sie sich überwiegend frei bewegen dürfen", sagte Dedy. Einige Städte seien als zentrale Verkehrsknotenpunkte besonders betroffen. Dedy forderte eine Zusage der Bundesregierung, dass die Städte mit den finanziellen Folgen der Flüchtlingsaufnahme nicht alleingelassen werden. Städte wie Berlin oder Frankfurt (Oder), in denen besonders viele Menschen ankämen, bräuchten kurzfristig Sonderhilfen.

Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge steigt

Mit der steigenden Zahl der hierzulande ankommenden Kriegsflüchtlinge werden auch die Rufe nach mehr Koordination und Unterstützung vom Bund lauter. Seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar habe die Bundespolizei 64.604 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland festgestellt, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin mit. Das sind etwa 14.000 Geflüchtete mehr als am Tag zuvor.

Die Bundespolizei führe zwar momentan verstärkte Kontrollen durch, sagte der Sprecher. Da es an den EU-Binnengrenzen aber keine stationären Kontrollen gebe, "kann die Zahl der nach Deutschland eingereisten Kriegsflüchtlinge tatsächlich bereits wesentlich höher sein".

Ukraine: Mehr als zwei Millionen Menschen geflüchtet

Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums sind unter den Kriegsflüchtlingen, deren Ankunft in Deutschland registriert wurden, 56.500 ukrainische Staatsangehörige, zumeist Familien ohne Männer. Hinzu kommen etwa 8100 Menschen anderer Nationalität.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) haben seit Kriegsbeginn mehr als zwei Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Die meisten von ihnen seien nach Polen sowie nach Ungarn, Rumänien, Moldau und in die Slowakei gegangen, sagte eine UNHCR-Sprecherin in Genf. Nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) sind unter den Geflüchteten gut 100.000 Menschen anderer Nationalitäten. Die Ukraine zählte vor Beginn des Kriegs mehr als 44 Millionen Einwohner.

Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki verlangte angesichts von Zehntausenden Flüchtlingen aus der Ukraine eine rasche Bund-Länder-Runde. Diese müsse schnellstens einberufen werden, "um die vielen Menschen im gesamten Bundesgebiet verteilen zu können", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die Hauptstadt sei verständlicherweise aktuell überfordert, weil Berlin Anlaufpunkt des übergroßen Teils der flüchtenden Frauen und Kinder sei.

300 Busse sollen Flüchtlinge befördern

Bundesweit stehen nach Angaben der Deutschen Bahn jetzt bis zu 300 Busse für die Beförderung ankommender Flüchtlinge bereit. Die zusätzliche Unterstützung für geflüchtete ukrainische Familien sei in Kooperation mit den deutschen und polnischen Behörden organisiert worden, teilte ein Bahnsprecher mit. Bislang sind nach Angaben des Konzerns 20 Busse in und von Polen in Richtung Deutschland unterwegs, bundesweit seien es 30 Fahrzeuge.

Die Busse würden eingesetzt zwischen Warschau und Deutschland sowie innerhalb Deutschlands und in Richtung anderer europäischer Städte - etwa nach Paris. Allein am Berliner Hauptbahnhof stehen demnach etwa 20 Fahrzeuge täglich bereit. Menschen, die dort mit Zügen aus Polen eintreffen, könnten damit an unterschiedliche Orte in Deutschland gefahren werden. Kurzfristig könne die Anzahl auf bis zu 50 Busse aufgestockt werden. Auch in Brandenburg sind an den Bahnhöfen in Frankfurt/Oder und Cottbus Reisebusse im Einsatz.

"Wir stehen in engem Austausch mit dem Bundesinnenministerium und sind selbstverständlich auch bereit, uns in einem möglichen Koordinierungsgremium auf Bundesebene zu engagieren", sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager. "Damit alles gut laufen kann, ist eine frühzeitige Einbeziehung in politische Entscheidungen und ein gutes Zusammenwirken im Interesse der Vertriebenen unerlässlich", fügte er hinzu. Sager zeigte sich zugleich tief beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Menschen.

− dpa