PNP-Interview
Grünen-Europaabgeordneter Erik Marquardt zur Seenotrettung: "Europa denkt falsch"

15.07.2019 | Stand 19.09.2023, 20:42 Uhr

−Foto: PNP Archiv

Herr Marquardt, Außenminister Heiko Maas regt eine Koalition der Willigen an, um auf dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge auf die EU-Staaten zu verteilen. Wie beurteilen Sie das?
Marquardt: Es ist sehr erfreulich, dass Minister Maas nach stillen Jahren endlich die Initiative ergreift. Seit zwei Jahren fragen die Seenotretter nach einem Termin, um sich mit ihm über die Lage auszutauschen, nie hatte er Zeit. Man kann nur hoffen, dass seiner Initiative jetzt auch Taten folgen und die sozialdemokratischen Parteikollegen des Außenministers auf Malta ihre Hafenblockade für die Seenotrettung schnell aufheben.

Sie sind selbst als Helfer auf Schiffen wie der "Sea-Watch 3" gefahren. Wie lässt sich die Situation an Bord beschreiben?
Marquardt: Vom Festland aus betrachtet ist das kaum vorstellbar. Die Crew ist teils bis zu drei Wochen unterwegs. Seit Italiens Innenminister Matteo Salvini die Häfen des Landes geschlossen hat, ist das zeitlich auch nicht mehr genau abzuschätzen. Das sorgt auch für Stresssituationen an Bord. Da sind zwischen fünfzig und 150 Menschen auf einem dreißig Meter langen Schiff. Dazu kommt, dass die Schiffe teils bei hohem Seegang eine kräftige Neigung haben. Da werden Menschen seekrank, es besteht die medizinische Gefahr der Dehydrierung. Das ist für Crew und Gerettete äußerst anstrengend.

Ursula von der Leyen steht morgen zur Wahl als EU-Kommissionspräsidentin. Aus flüchtlingspolitischer Sicht, was müsste die neue EU-Kommission leisten?
Marquardt: Da gibt es viel zu tun. Ursula von der Leyen könnte einen Einsatzplan für Seenotrettung unter Beteiligung von Mitgliedstaaten und Frontex vorschlagen. Es stellt sich aber auch die Frage, warum sie als Verteidigungsministerin keine eigene deutsche Mission im Mittelmeer zustande gebracht hat. Das aus der EU-Mission abgezogene Schiff der Bundesmarine steht ja zur Verfügung. Die neue EU-Kommission muss auch EU-weit einheitliche Standards in den Asylverfahren durchsetzen. Für Asylsuchende ist das eine europäische Lotterie, wenn die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afghanistan in Ungarn gegen Null tendiert und in anderen EU-Länder deutlich höher. Von rechtsstaatlichen Verfahren kann da keine Rede sein.

Am Donnerstag beraten die EU-Innenminister. Was erwarten Sie von dem Treffen in Helsinki?
Marquardt: Es gibt positive Signale aus Spanien, Portugal, Luxemburg und Frankreich. Finnland als neue EU-Ratspräsidentschaft spielt da auch eine gute Rolle. Wir brauchen eine Koalition der Willigen. Die EU-Kommission muss aber auch aufnahmebereite Länder finanziell unterstützen. Die neue Kommission muss aber auch generell umdenken.

Wie meinen Sie damit konkret?
Marquardt: Tausende Menschen sterben jährlich im Mittelmeer. Es ist jetzt wichtig, endlich zu sagen: wir retten so viele Menschen wie möglich und diskutieren derweil weiter. Es ist unerträglich, dass die europäische Union die Hände in den Schoß legt, statt ihre Werte im Mittelmeer zu retten. Die EU muss ein Resettlement-Programm auf den Weg bringen: Das heißt Kontingente vereinbaren, um Flüchtlinge direkt aus Nordafrika aufzunehmen. Europa denkt falsch. Wenn die Flüchtlinge auf dem Meer sind, ist eigentlich zu spät.

Das Interview führte Peter Riesbeck