Kritik zum neuen Roman des 81-Jährigen
Sex, verrücktes Leben, Sterben: „Der letzte Sessellift“ von John Irving

28.04.2023 | Stand 16.09.2023, 23:00 Uhr

Im Sessellift beschließt ein altes Paar zu sterben – die Szene gibt dem Roman „Der letzte Sessellift“ seinen Namen. −Foto: Diogenes

Fast 1100 Seiten zusammenzufassen, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Aber leicht zu sagen ist, dass sich jede Seite lohnt. Wie könnte es auch anders sein, Autor ist John Irving, 81 Jahre alt, und ein Irving at his best. Sein Roman geht unter die Haut, ist zum Weinen und zum Lachen. Er zeichnet nicht nur das 80-jährige Leben des Ich-Erzählers Adam Brewster nach, sondern auch die US-Geschichte von den 1940er Jahren bis fast in die Gegenwart. Im Hintergrund der Familiengeschichte läuft stets auch die Zeitgeschichte, Vietnamkrieg, Watergate, die Reagan-Ära, Aids, Beginn der Tea-Party-Bewegung und vor allem die Frauenbewegung.

Auf Seite 293 lesen wir: „Wir können nur die sein, die wir nun mal sind, und tun, was wir nun mal tun. “ Der zu sein, der man ist, ist für die Protagonisten des Romans gar nicht so leicht. Adams Mutter „Little Ray“ hatte nur einmal Sex mit einem Mann, da wurde Adam gezeugt. Ansonsten ist sie zum eigenen Geschlecht hingezogen und zum Sohn, den sie weit über die Jugendzeit hinaus mit ins eigene Bett nimmt. Bis Seite 719 muss man kommen, um zu erfahren, dass nicht Filmidol, Tarzan- und Old-Shatterhand-Darsteller Lex Barker, auch keiner der österreichischen Ski-Olympioniken, die die Mutter so verehrt, der leibliche Vater von Adam ist. Ein Minderjähriger hat sie im US-Skiort Aspen, wo Little Ray Skilehrerin war, geschwängert.

Die Mutter, die eine leidenschaftliche Beziehung zur „Pistenpflegerin“ Molly unterhält, heiratet zur Tarnung Elliot Barlow, einen kleinen Mann, der zum Stiefvater und Freund Adams wird, sich im Laufe des Romans aber in eine Frau verwandelt. Dann sind da Cousine Nora und ihre stumme Freundin Em, die ein ausuferndes lesbisches Sexleben haben. Der einzige Heterosexuelle im queeren Umfeld ist Adam, der auch jede Art von verrücktem Sex praktiziert, dem der Penis fast bricht, der freakige Partnerinnen loszuwerden versucht, indem er sie mit dem Gespenst seines vom Blitz erschlagenen Großvaters konfrontiert. Letzterer erscheint bevorzugt in seinem letzten Lebenszustand, als dementer, nur mit einer Windel bekleideter Sabbergreis. Da wird es regelrecht mysteriös. Gespenstererscheinungen sind bei Adam keine Seltenheit.

Als Adams Schulkamerad Zim in Vietnam fällt, schreibt Irving folgende großartige Passage: „Der erste Verlust eines geliebten Menschen, der erste Tod von jemandem, der einem nahe steht – ab da fließt die Zeit anders. Früher schien sich über lange Strecken nichts zu ereignen. Doch nach einem Verlust bemerkt man auf einmal die Drehung der Erde. Ständig ist sie in Bewegung, ständig ein Stück voraus. Für den Rest des Lebens weiß man, dass noch mehr Tode kommen – einer nach dem anderen, der eigene eingeschlossen.“

Irving ist wie stets ein politischer Schriftsteller. Er reflektiert die Tragik des Vietnamkriegs und die Ignoranz Reagans gegenüber Aids, und er bezieht klar Stellung gegen den Hass der konservativen Amerikaner gegen Homo- und Transexuelle, gegen die sozialen Missstände und Ungleichheiten. Einmal mehr liefert Irving ein eindringliches Plädoyer für Toleranz.

Irving spickt seinen Roman nur so mit Handlung und schenkt dem Leser immer wieder Sätze wie diese, als er das alte Ehepaar beschreibt, das nach einer Krebsdiagnose beschlossen hat, am Gipfel des Skigebiets im Sessellift gemeinsam zu sterben: „Es waren wunderbare, ungestörte Minuten. Ich bewunderte das Leben, das sie sich gemeinsam aufgebaut hatten, und wie sie es zu beenden beschlossen hatten.“ Mit Anna-Nina Kroll hat der Bad Griesbacher Peter Torberg das Buch übersetzt.

Stefan Rammer


Diogenes, 1088 Seiten, 36 Euro