Vor 125 starb Lewis Caroll
„Alice im Wunderland“: Autor fotografierte kleine nackte Mädchen

14.01.2023 | Stand 17.09.2023, 5:36 Uhr

Lewis Carroll suchte intensiv Kontakt zu kleinen Mädchen – bis die reale Alice heiratete. −Foto: Public Domain

Es ist schon ein bisschen absurd: Generationen von Müttern und Vätern lesen ihrem Kind die Geschichte von „Alice im Wunderland“ vor. Und keiner stört sich daran, dass der Mann, der das Buch geschrieben hat, heute wahrscheinlich eine Klage wegen Kinderpornografie am Hals hätte. Erfand der Brite Lewis Carroll seine Abenteuer doch vor allem, um sie kleinen Mädchen vorzulesen, ihnen nahe zu sein und sie mitunter sogar nackt zu fotografieren. Wenn sich der Tod des Schriftstellers am heutigen 14. Januar zum 125. Mal jährt, wird dieser dunkle Fleck im Leben des Autors nicht, wie in so manch früherem Jahrzehnt, ausgespart bleiben.

Es lohnt sich, einen Blick auf das tragische Leben dieses Mannes zu werfen, der seine Bücher unter dem Pseudonym Lewis Carroll publizierte und in ihnen das lebte, was er im realen Leben als Diakon und Dozent der Mathematik in Oxford nicht konnte. Sein Name war Charles Lutwidge Dodgson und er kam am 27. Januar 1832 in Daresbury zur Welt. Sechs Mädchen und zwei Brüder folgten, so dass der Junge früh auf die Geschwister aufpassen musste. Er war so nie wirklich Kind, versuchte zeitlebens, die Zeit anzuhalten und nachzuholen, was ihm selbst verwehrt blieb. Der Heranwachsende verdrängt seine Sexualität.

Der Vater will, dass er Priester wird. Also geht Charles 1850 nach Oxford, studiert Theologie, Mathematik und Literatur. Seines Stotterns wegen, das ihm das Predigen von der Kanzel erschwert, entscheidet er sich für eine Laufbahn als Diakon. Dann aber entscheidet er sich um und wird Tutor am Christ Church College, an dem er selbst studiert hat. Bis zum Tod wird er die Stellung behalten. Sein Unterricht war, wie Schüler berichten, „stinklangweilig“.

In seinen Tagebüchern spielt das Berufsleben kaum eine Rolle. Dafür thematisiert er ausführlich seine zweite Existenz als Fotograf und führt über Begegnungen mit jungen Mädchen akribisch Buch. Auch über die mit den drei Töchtern seines Dekans Henry George Liddell. Am ersten Freitag im Juli des Jahres 1862 rudert Charles mit seinem Freund Duckworth und den drei Mädchen Alice, Lorina und Edith auf dem Oberlauf der Themse. Sie wollen ein Picknick machen. Weil den Kindern langweilig wird, erfindet Charles die Geschichte der kleinen „Alice im Wunderland“, die in einen Hasenbau fällt und dort seltsamen Gestalten begegnet. Einem weißen Kaninchen, einer Grinsekatze und dem verrückten Hutmacher. Sie schrumpft und wächst und muss jede Menge Abenteuer überstehen. Erst 1865 schreibt er die Geschichte als Buch nieder.

„Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“, schreibt Charles in das Exemplar, das er Alice schenkt. Über Jahre hält er Kontakt zu ihr. In einem Brief an die erwachsene Alice schreibt er später: „Ich habe eine Menge Freundinnen seit damals gehabt, aber das war ganz etwas anderes.“ Immer wieder hat sich der erwachsene Dozent mit dem Kind getroffen. Obwohl Mutter Liddell ihm zeitweise verbietet, die Töchter zu sehen. Warum, ist bis heute ungeklärt. Diese Seiten im Tagebuch sind herausgerissen.

Immer wieder sucht Charles den Kontakt zu kleinen Mädchen, meistens fünf, sechs Jahre alt. Er geht auf Spielplätze oder an den Strand und spricht sie an. Erzählt ihnen Geschichten oder gibt ihnen Rätsel auf. Zu Hause hat er Spielsachen und Spieluhren, um sie zu ködern. Als Feen verkleidet oder gleich im „Eva-Kostüm“, über das er mit den Müttern ausführlich verhandelt, fotografiert er sie in „natürlicher Unschuld“, wie er zu sagen pflegt. Wenn er Kinder in Pose rückt, an ihren Kleidern nestelt, müssen die Mütter draußen bleiben. „In gewisser Weise sammelte er kleine Mädchen so begierig wie andere Leute Antiquitäten oder Erstausgaben sammeln“, schrieb seine Biografin Anne Clark. Allein im Jahr 1863 listet sein alphabetisch sortiertes Verzeichnis 102 Namen auf. 1880 hörte Lewis Carroll mit einem Mal auf, seine „kleinen Freundinnen“ zu fotografieren. In dem Jahr, in dem die reale Alice heiratete.

Welf Grombacher